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'Eine neue Renaissance?'
 
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Eine neue Renaissance?

In vieler Hinsicht ist das Kraftzentrum Europas aus Europa ausgewandert. Das geographisch politische Europa ist Provinz geworden. Wissenschaftlich, technisch und kulturell hat es in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren, politisch und militärisch hat es sich als unfähig erwiesen, die eigenen Probleme auf dem Balkan aus eigener Kraft zu lösen. Weit mehr als der Irak-Krieg hat der Jugoslawienkonflikt, der ohne die militärische Hilfe der USA nicht lösbar war, die politische Schwäche Europas offenbart.

Der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance wird in dieser bekannten Darstellung deutlich gemacht: Der neugierige Forscher durchbricht das alte Lehrgebäude des Mittelalters und entdeckt jenseits des Horizonts eine neue, fremde Welt!
(Quelle: Colorierter Holzschnitt des Astronomen Camille Flammarion [1] , 1882,  inakiv, culture.gouv.fr/culture/flammarion/cflam/camille.htm, 02.06.2006)

Wenn Europa wieder von der Provinz zu einem Zentrum werden und dabei wieder stärkeren Einfluss auf die Wirkungen des eigenen kulturellen Erbes gewinnen will, wird es seine eigene Erneuerung anstreben müssen. Hierin haben Habermas und Derrida Recht, auch wenn ihre politische Konkretisierung zu kurz greift. Der Topos von der Erneuerung Europas ist älter und die mit ihm verbundenen Herausforderungen gehen tiefer. Morin fordert, die Europäer müssten eine "zweite Renaissance" anstreben, die die kulturelle und die politische Erneuerung miteinander verbindet. Zwei Wege sind es, die nach Morin begangen werden müssen, um eine solche zweite Renaissance zu ermöglichen: Öffnung und Erinnerung. Beide sind miteinander verbunden: "Wir müssen uns wieder in Europa verwurzeln, um uns für die Welt zu öffnen, ebenso wie wir uns für die Welt öffnen müssen, um uns in Europa zu verwurzeln" (Morin 1988: 202). Was kann dies heißen?

Öffnung: Bei aller Vielfalt innerhalb Europas ist die Selbstbezüglichkeit der europäischen Gesellschaften mit Händen zu greifen. Weit mehr als die europäischen sind es heute die amerikanischen Großstädte, die als Laboratorien für eine globalisierte Lebensweise wirken, Mikrokosmen, in denen Differenz und Dialogik gelebt und erprobt werden, mit allen Schwierigkeiten und Konflikten; und es sind die amerikanischen Universitäten und Forschungslabors, die zu globalen geistigen Zentren geworden sind und Intellektuelle aus der ganzen Welt anziehen. "Wir müssen wieder äußere Einflüsse assimilieren, um eine neue Blüte zu erleben" (Morin 1988: 202).

Edgar Morin fordert, die Europäer müssen eine Art "zweite Renaissance" anstreben, die die kulturelle und die politische Erneuerung miteinander verbindet.






(Quelle: www.europaeische-kultur-stiftung.org/aufgaben/fuchsbiografie.html)

Damit ist mehr und anderes gemeint als der Import von Produkten der Kulturindustrie aus Hollywood und Fernost. Es geht auch nicht um bloße Rezeption äußerer Einflüsse, nicht um Einbahnstraßen, sondern um die aktive geistige Auseinandersetzung. Europa muss dabei seine eigene Vielfalt nutzen und erweitern, um sich als Experimentierfeld für eine globale Kultur der Freiheit und der Differenz zu verstehen, in der das europäische Erbe weiterlebt. Dabei geht es auch um durchaus praktische Fragen einer aktiven europäischen Kulturpolitik, um Übersetzungen und Einladungen, um eine zielgerichtete Einwanderungspolitik und um die Internationalisierung des Bildungswesens, um neue Anstöße für den globalen intellektuellen Diskurs. Ein Beispiel: Erst nach den Anschlägen vom 11. September [2] ist aufgefallen, dass es einen europäisch arabischen intellektuellen Austausch praktisch nicht gibt. Ein zweites Beispiel: Es ist nicht Folge amerikanischer Hegemonie, sondern westeuropäischer Provinzialität, wenn es amerikanische Initiativen, Förderer und Berater waren, die nach 1989 in Osteuropa den Neuaufbau einer demokratischen politischen Bildung, z. B. bei der Entwicklung von Lehrplänen und Schulbüchern, unterstützend begleitet haben.

Edgar Morin, Jahrgang 1919, ist emeritierter Direktor des Forschungszentrums "Centre national de la recherche scientifique" (CNRS). Er ist einer der bedeutendsten französischen Denker der Gegenwart. In der Résistance Anhänger der Kommunisten, wurde Morin 1951 wegen antistalinistischer Haltung aus der KPF ausgeschlossen. Morin war Mitbegründer des Komitees gegen den Algerienkrieg und der Zeitschrift "Arguments". Die Werke Morins liegen in zahlreichen Sprachen vor. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählt das soziologische Hauptwerk "La Méthode" (1977-1991). Sein Werk "Heimatland Erde" handelt von den Bedingungen des Lebens auf unserem Planeten, wie sie sich verstehen lassen und welche Perspektiven es gibt, sie zu verbessern.



(Quelle: galilei.free.fr/Morin/, inaktiv, 18.01.2005)

Erinnerung: "Wir müssen also die Vergangenheit retten, damit die Zukunft gerettet werden kann" (Morin 1988: 201). Die Erinnerung an die gemeinsamen Erfahrungen, an die erlittenen Katastrophen, an die kulturellen Wurzeln in der Antike kann die Antworten stärken, ohne die die Zukunft Europas gefährdet ist: eine Kultur der Differenz, skeptische Vernunft, Demokratie und politische Freiheit. Solche Erinnerung ist besonders in Zeiten des Übergangs nötig, und in einer solchen Zeit befindet sich Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Ost West Teilung des Kontinents ist beendet, aber ein Zurück in die Zeit davor, die Welt der souveränen Nationalstaaten, gibt es nicht, jedenfalls nicht zu einem akzeptablen Preis. Mehr noch: Die Epoche, die Europa bis zum Desaster des Zweiten Weltkriegs zum dominierenden global player gemacht hatte, die Zeit von der Renaissance bis zur Industriegesellschaft, die "Neuzeit" oder die "klassische Moderne", geht zu Ende.

Aber vielleicht ist die "zweite Renaissance" längst im Gang. Die Rede von ihr ist im Kontext der Diskussion um die digitalen Medien seit einiger Zeit zum verbreiteten Topos geworden, weil die neuen Medien universelle Werkzeuge sind, die Technik und Kunst, Produktion und Kommunikation, Effizienz und Kreativität auf neue Weise miteinander verbinden lassen und weil sie die Konstruktion der Wirklichkeit ähnlich weit reichend beeinflussen, wie es die Erfindung des Buchdrucks in der Renaissance getan hatte. In der Erkenntnistheorie, in vielen Wissenschaften und inzwischen bis weit in die öffentliche intellektuelle Debatte hinein hat sich mit dem Konstruktivismus eine Sicht der Welt verbreitet, die sich grundlegend von dem Weltbild unterscheidet, das die Naturwissenschaften von der Renaissance bis zur Industriegesellschaft hervorgebracht hatten. Die Wirklichkeit erscheint nun nicht mehr als objektives Gegenüber des Menschen, das mit Hilfe der Vernunft richtig erkannt und über das mit den Mitteln der Wissenschaft immer mehr gesichertes Wissen produziert wird.

Totenkopf oder Frau am Spiegel? Die Konstruktivismusdebatte geht davon aus, , "dass wir über die äußere Welt nur etwas im Rahmen unserer Deutungen dieser Welt sagen können, dass wir also nur das Bild kennen, das unser Gehirn aus den Sinneseindrücken konstruiert und dass diese Konstruktionen sich zwischen verschiedenen Lebewesen und zudem bei Menschen zwischen Kulturen und Individuen unterscheiden, aber niemals mit der Wirklichkeit als solcher übereinstimmen." (vgl. Text)

(Quelle: www.ichmussmal.de/illusionen/kippbilder.html)

Der Konstruktivismus [3] geht dagegen davon aus, dass wir über die äußere Welt nur etwas im Rahmen unserer Deutungen dieser Welt sagen können, dass wir also nur das Bild kennen, das unser Gehirn aus den Sinneseindrücken konstruiert und dass diese Konstruktionen sich zwischen verschiedenen Lebewesen und zudem bei Menschen zwischen Kulturen und Individuen unterscheiden, aber niemals mit der Wirklichkeit als solcher übereinstimmen. (Am Rande sei vermerkt, dass der Begriff des Konstruktivismus etwas unglücklich gewählt ist, weil er fälschlich zu "Konstruktion" die Assoziation der "Beliebigkeit" nahe legt, was aber durchaus nicht zwingend ist; zudem ist "der Konstruktivismus" keine geschlossene Theorie, sondern eher ein Stil des Denkens, eine intellektuelle "Brille", durch die die Welt anders aussieht.)

Der Konstruktivismus hat in den letzten Jahrzehnten vor allem durch Erkenntnisse der Neurobiologie, der Evolutionstheorie und der Psychologie Popularität und weite Verbreitung auch in den Geistes und Sozialwissenschaften gefunden. Im Grunde aber nahm der konstruktivistische Denkstil seinen Ausgangspunkt bereits im frühen 20. Jahrhundert in der Quantenphysik, und es ist bemerkenswert, dass es bis in unsere Tage dauert, bis deren Provokationen für das alltägliche Bild der Welt sich langsam herumsprechen.

Dies ist mit den kulturellen Widerständen, auf die das Weltbild von Kopernikus [4] und Galilei stieß, durchaus vergleichbar, nur dass man als Quantenphysiker heute nicht mehr den Scheiterhaufen fürchten muss. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer [5] formuliert die Provokation der Quantenphysik so: Man dürfe sich die Eigenschaften der Materie auf der Ebene der Elementarteilchen nicht mehr so vorstellen, "dass auf der atomaren Bühne Dinge agieren. Vielmehr treten dort Kreationen unserer Phantasie auf, die wir erschaffen und betrachten" (Fischer 2002, 397 f.). Der Quantenphysiker Anton Zeilinger [6] zieht daraus eine radikale Konsequenz: "Wirklichkeit und Information sind dasselbe" (Zeilinger 2003, 229). Deshalb werde es "nie möglich sein, durch unsere Fragen zum Kern der Dinge vorzustoßen. Vielmehr erhebt sich stattdessen begründeter Zweifel, ob überhaupt ein solcher Kern der Dinge, der unabhängig von Information ist, tatsächlich existiert" (Zeilinger 2003. 230).

In seiner Politeia diskutiert Platon die Möglichkeit einer idealen Staatsordnung. Bei der Frage, ob und wie die Menschen gebildet werden können, verwendet er das berühmte Höhlengleichnis. Kernaussage des Gleichnisses ist, dass im Bereich des nur Denkbaren die Ideen das Wirkliche der Welt sind und die uns erscheinende Raumwelt nur Schattenbilder dieser Ideen darstellen. (Die Abbildung zeigt das Höhlengleichnis in einer Darstellung von Posul)

(Quelle: astrosurf.com/lombry/philo-sciences-mathematiques.htm, inaktiv, 02.06.2006)

Es ist offenkundig, dass die moderne Naturwissenschaft damit wieder bei der Philosophie und deren Wurzeln in der Antike angekommen ist. Dass der Mensch keine Sachen, sondern nur Ansichten über Sachen kennt, war bereits ein Thema der griechischen Philosophie, und den vernünftig begründeten Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt hatte schon Georgias [7] im 5. Jahrhundert v. Chr. gestreut. Die Rede von einer neuen oder zweiten Renaissance mag angreifbar sein, weil Geschichte sich nicht wiederholt. Aber durchaus ähnlich wie in der europäischen Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert ist heute das Bild vom Menschen und der Welt in einem Umbruch begriffen, der die Systeme des Wissens neu ordnen wird. Dabei werden auch die Brücken zur Antike wieder saniert oder neu gebaut.