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'Maueröffnung während des französischen Staatsbesuchs in der DDR'
 
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Maueröffnung während des französischen Staatsbesuchs in der DDR

Unter den Diplomaten, die am Freitag nachmittag an der politischen Abschlußerklärung arbeiteten, in der auch zur deutschen Wiedervereinigung Stellung bezogen werden sollte, ging es hoch her. Die Deutschen hatten um die Formulierung gebeten: die Zwölf strebten einen Zustand des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk seine Einheit durch Selbstbestimmung wiederfinden würde. Die Italiener wehrten sich aus Rücksicht auf Gorbatschow, mit stillem Einverständnis der Franzosen, gegen das Wort "Selbstbestimmung". Erst als die Deutschen anboten, das Selbstbestimmungsrecht zu relativieren, indem ein Satz hinzugefügt würde, wonach diese Selbstbestimmung sich einfügen müsse sowohl in den Rahmen der Zusammenarbeit im Ost-West-Dialog als auch in die europäische Integration, stimmten alle zu. Und natürlich durfte auch in Straßburg der Satz nicht fehlen, wonach die Grenzen unantastbar blieben.

François Mitterrand begründete dies anschließend so: "Wir weisen in diesem Zusammenhang auf die Schlußakte von Helsinki hin, auf die Zusammenarbeit im Ost-West-Dialog und stellen die europäische Einigung zur Bedingung. Ich hebe diesen Satz hervor, weil er sehr umstritten war, aber ein wichtiges Element ist, um den Ablauf der Dinge in Ost-Deutschland zu beurteilen." 

Und Margaret Thatcher war noch klarer: "Der Warschauer Pakt und die NATO müssen von beiden deutschen Staaten bei ihrer Selbstbestimmung respektiert werden... Dieser Absatz wurde sehr sorgfältig ausgearbeitet. Wir haben uns dafür sehr viel Zeit genommen." 

Mit diesen Zusätzen wurde den Deutschen ein Korsett angelegt: Zwar durften sie über ihre Einheit selbst befinden, doch wurde die Selbstbestimmung eingeschränkt durch die Vormundschaft von NATO, Warschauer Pakt und EG. Beide deutsche Staaten mußten also in ihren Militärbündnissen und Wirtschaftsgemeinschaften bleiben. Allerdings sollte so bald wie möglich ein Handelsabkommen zwischen EG und DDR abgeschlossen werden, um das Land wirtschaftlich zu stabilisieren. 

Damit hatte Mitterrand seine Vorstellungen von den übrigen EG-Partnern, auch den Westdeutschen, absegnen lassen. Von jetzt ab würde die französische Position an Klarheit gewinnen. 

Zur Frage der Grenzen in Europa wurde Mitterrand am 10. Dezember, am Tag nach dem EG-Gipfel in Straßburg, befragt, und er differenzierte seine bisherigen Aussagen und Forderungen. (25) In der Schlußakte von Helsinki seien Grenzen garantiert, sie könnten aber im gegenseitigen Einverständnis auf demokratischem und friedlichem Wege verändert werden. Praktisch gäbe es jedoch zwei Arten von Grenzen: jene, bei denen er es für legitim hält, sie zu ändern, und solche, bei denen eine Umgestaltung aus verschiedenen Gründen illegitim wäre. Die Elbe-Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten hält er für eine Trennung besonderer Art, und er wird von jetzt an immer wieder den Gedanken wiederholen: "Diese Grenze wurde durch ein Volk gezogen; niemand bestreitet, daß es sich um ein Volk handelt... Niemand durfte glauben, daß die Teilung Deutschlands ewig sei." 

Zur zweiten Kategorie gehört jedoch die Grenze zwischen der DDR und Polen. Sie in Frage zu stellen ist nicht legitim. Sie ist der Preis, den die Deutschen für den Krieg zahlen müssen. Mitterrand: "Unsere deutschen Freunde müssen sich daran erinnern, daß es einen Weltkrieg gab, daß dieser Weltkrieg eine bestimmte Konfiguration in Europa hervorgebracht hat, daß man Demokratie und Frieden verlangt, aber auch, daß die zu jener Epoche gezogenen Grenzen in Europa nicht umgestoßen werden, denn wenn man diese Debatte beginnt, dann werden viele folgen." Und in weiser Voraussicht zählt Mitterrand die Konfliktherde im Ostblock auf, von Moldawien und Rumänien, Ungarn, Transsylvanien und den Baltischen Republiken bis wo immer es Probleme geben könnte, wenn Grenzen erst einmal in Frage gestellt werden dürften. Die Zukunft wird ihm schon wenige Jahre später recht geben - von Moldawien bis Jugoslawien. 

Wieder zwei Tage später, am 12. Dezember 1989, wird in der französischen Nationalversammlung über die Wiedervereinigung debattiert, und der französische Außenminister Roland Dumas erklärt, die "dauerhafte Lösung der deutschen Frage" hänge von zwei Grundsätzen ab, die nicht voneinander getrennt werden dürften: Da sei einmal das Recht der Deutschen in beiden deutschen Staaten, frei über ihre Zukunft zu bestimmen. "Das ist das Selbstbestimmungsrecht. Das ist der demokratische Weg." Und der zweite Grundsatz laute: "Diese Entscheidung muß von den anderen europäischen Ländern, besonders von den Nachbarländern, angenommen werden. " So unantastbar die freie Entscheidung auch sei, so dürfe sie "in ihrer Anwendung nicht als absoluter Grundsatz angesehen werden", den man den anderen im Namen einer wiedergefundenen Stärke aufdränge, auf die Gefahr hin, bei manchen die Angst vor der Wiederkehr vergangener Gefahren zu erwecken. Das ist der friedliche Weg. "Zum ersten Mal seit Ende des Krieges hört dieses Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes auf, theoretisch zu sein, und wird Wirklichkeit, vorausgesetzt, der Weg zu Freiheit, zu Frieden und zu Solidarität wird nicht behindert." Und als sei es nicht häufig genug gesagt werden, so fehlt auch hier der Hinweis auf die Oder-Neiße-Grenze nicht. "Deutsche Wiedervereinigung: Frankreich bremst", so lautet am nächsten Tag die Schlagzeile in "Le Quotidien de Paris". 

Während Kohls öffentliches Schweigen zur Oder-Neiße-Grenze seine Beziehung zu François Mitterrand weiter verschlechterte, führte der Termin des französischen Staatsbesuchs in der DDR zu Mißfallen bei Kohl. Der Bundeskanzler war zu Hause unter Druck geraten, da ihm immer lauter vorgeworfen wurde, er verzögere eine Entwicklung im deutsch-deutschen Verhältnis, weil er sich nicht zu einem Besuch in der DDR bereit finde. Kohl aber, durch die Vielzahl von internationalen Treffen im November und Dezember und durch andere Termine ausgelastet, kam in Zeitschwierigkeiten, denn von ihm wurde erwartet, daß er sich mit der neuen Führung in Ost-Berlin vor dem französischen Staatspräsidenten traf. Mitterrand bestand aber auf seinem Termin vom 20. bis zum 22. Dezember, weil er mit Ablauf des Jahres die EG-Präsidentschaft weitergeben mußte. So reiste Helmut Kohl am 19. Dezember nach Dresden, wo er mit Hans Modrow Verhandlungen über eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft verabredete. 

Mit seinem Besuch in der DDR wollte François Mitterrand dem angeschlagenen Staat eine demonstrative internationale Anerkennung zollen, die vielleicht zur Stabilisierung beitragen würde. Bei den Gesprächen mit Modrow und anderen betonte er sein inzwischen ausgereiftes Konzept, wonach ein demokratischer und friedlicher Weg zur deutschen Einheit bedeute: freie, geheime Wahlen im Inneren, Anerkennung der internationalen Verträge und Blockzugehörigkeit im Äußeren, Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze, Verzicht auf ABC-Waffen. 

Der kurze Besuch reicht gerade für Gespräche mit Regierung und Opposition in Berlin und für einen kurzen Abstecher nach Leipzig, seit 1981 Partnerstadt von Lyon. In Leipzig diskutiert Mitterrand an der Universität mit Studenten und erklärt ihnen seine Sicht der Dinge. Er besucht auch - auf eigenen Wunsch -Kurt Masur, geht zu Fuß durch Leipzig zu Nikolai- und Thomaskirche, Zentren der Opposition gegen das alte DDR-Regime, und wird vom Publikum mit Applaus gefeiert. Während seines Besuches wird beschlossen, die Mauer am Brandenburger Tor am Freitag, 22. Dezember, mit einer Zeremonie zwischen Helmut Kohl und Hans Modrow zu öffnen. In der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag wird unter dem Schutz von Vopos im Osten und Westberliner Polizei im Westen die Mauer am Brandenburger Tor abgerissen, und die meisten Mitglieder der französischen Delegation machen sich nach dem von François Mitterrand für die Ostberliner Staatsführung gegebenen Empfang zum Brandenburger Tor auf. Erst weit nach Mitternacht ist die erste Bresche geschlagen. Auf Ostberliner Seite öffnet Pierre Thivolet, Korrespondent des französischen Fernsehens, eine riesige Flasche Champagner, und der erste, der seinen Kopf von Westberliner Seite durch die Mauer nach Osten hindurchsteckt, ist der französische Kulturminister Jack Lang. 

Am Freitag vormittag gibt der französische Staatspräsident vor seinem Rückflug nach Paris eine Pressekonferenz, auf der er gefragt wird, weshalb er nicht an der Öffnung des Brandenburger Tors teilnehme. Offensichtlich mißfällt Mitterrand nicht nur, daß dieser symbolische Akt in zeitlicher Nähe zu seinem Besuch liegt, sondern auch, daß hier ein weiteres Zeichen der deutschen Einheit gesetzt wird. Ruppig antwortet er, er sei zu der Zeremonie nicht eingeladen worden; außerdem sei es eine deutsche Angelegenheit. Vielmehr weist er auf den Viermächte-Status der Stadt hin: "Im Augenblick haben wir Rechte und Pflichten, denen wir uns nicht entziehen dürfen. Kein Vertrag ist unveränderlich, weshalb die vier Mächte sich schon versammelt haben und es, wenn notwendig, nochmals tun werden. Ich wünsche, daß dies dann gemeinsam mit den beiden deutschen Staaten getan werden kann." Und dann reist François Mitterrand wenige Minuten vor der Öffnung der Mauer am Brandenburger Tor ab, weshalb ihm französische Kritiker die Frage vorhalten, ob Charles de Gaulles sich dieses Ereignis hätte entgehen lassen? 

Große internationale Beachtung findet vierzehn Tage später ein Satz des französischen Staatspräsidenten, mit dem er in seiner Neujahrsansprache eine neue politische Idee entwickelt. Europa könne in zwei Schritten aufgebaut werden, meint Mitterrand, zum einen müsse die EG ihre Strukturen, wie in Straßburg beschlossen, verstärken. "Der zweite Schritt muß noch erfunden werden: Von den Beschlüssen von Helsinki ausgehend, rechne ich damit, daß in den neunziger Jahren eine europäische Konföderation im wahren Sinn des Wortes geboren wird, die alle Staaten unseres Kontinents in einer gemeinsamen und ständigen Organisation für Austausch, Frieden und Sicherheit vereint.". (25a)

Was es mit dieser "Europäischen Konföderation" auf sich hat, bleibt lange unklar, weshalb die Reaktionen des Auslandes auch vorsichtig sind. Gemeint war: "Die Konföderation versteht sich nicht ohne die Gemeinschaft. Weder Wettbewerb noch Verdoppelung: Die Konföderation beginnt, wo die Gemeinschaft endet... Die Konföderation wird der Ort sein, wo das europäische Projekt sich in den globalen Zusammenhang stellt. Es handelt sich wohlverstanden darum, durch sie die verschiedenen Europas zu verbinden und nicht in getrennte Entwicklungsbereiche einzuteilen." (26)

Mit dieser Idee wollte François Mitterrand den Druck ableiten, der von Polen, Ungarn und auch der DDR auf die EG entstanden war. Für Mitterrand galt stets: Die Zwölf müssen ihre Beziehungen erst einmal vertiefen, bevor andere aufgenommen werden können; ein Grund für diese Haltung war auch, Westdeutschland fest an die EG zu binden, so fest, daß Bonn keine Bewegungsmöglichkeit mehr gegeben sein würde, sich aus der Westbindung zu lösen. 

Um die nicht mehr zu verleugnende Mißstimmung zwischen dem Bundeskanzler und dem Präsidenten der französischen Republik zu beheben, verabreden beide ein privates Treffen am 4. Januar. Zum ersten Mal empfängt Mitterrand den Gast in seinem Landhaus in Latche, das im Südwesten Frankreichs in der Nähe der Atlantikküste liegt. Über eine Stunde lang hält der geschichtsbewußte Mitterrand dem deutschen Kanzler einen Vortrag über die Geschichte der Grenzen in Europa, insbesondere über die Bedeutung der Westgrenze Polens. Wieder erhält er unter vier Augen von Kohl die Zustimmung, doch der Franzose verlangt von dem Deutschen eine öffentlich erklärte Verpflichtung, die zu geben dieser nicht bereit ist. Der zweite Punkt, den Mitterrand Kohl abhandeln will, ist eine schnellere Gangart in der europäischen Einigung. Entgegen den Straßburger Beschlüssen solle die Regierungskonferenz zur Währungs- und Finanzunion spätestens Mitte 1990, nicht erst nach den Bundestagswahlen im Dezember einberufen werden. Auch da willigt Kohl nicht ein. Zum Abschluß des Tages gehen beide am Strand spazieren, die Mißstimmung ist nicht behoben, aber Kohl zeigt sich wenigstens ein wenig entgegenkommend, indem er Mitterrands neues Projekt der "europäischen Konföderation" mit Interesse "zur Kenntnis" nimmt.

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Anmerkungen

(25) Interview mit Antenne 2, 10.12.1989 

(25a) Le Monde, 2.1.1990 [Diese Fußnote wurde durch das Deuframat-Team hinzugefügt]. 

(26) Hubert Védrine und Jean Musitelli: Les changements des années 1989 1990 et L'Europe de la prochaine décennie, in: Politique Étrangère I/91, S. 176; und Ernst Weisenfeld: Mitterrands Europäische Konföderation, in: Europa-Archiv 17/91, S. 513 ff. 

 

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