French
German
 
Seite zur Sammlung hinzufügen
'Die Bedeutung Michail Gorbatschows im Einigungsprozess'
 
1 Seite(n) in der Sammlung
 
 
 
 
 

Die Bedeutung Michail Gorbatschows im Einigungsprozess

Trotz des rationalen Verständnisses für eine Wendung in der eigenen Ostpolitik lassen sich Gefühle bei Politikern nicht unterdrücken, und so blickte die französische Politik, ja auch François Mitterrand, mit einer gewissen Eifersucht auf das sich anbahnende freundschaftliche Verhältnis zwischen Bonn und Moskau, zwischen Genscher und Schewardnadse und über ihn zu Gorbatschow. Wurde Genscher in den USA sogar als "Maulwurf" der Sowjetunion diffamiert wegen seiner stets wiederholten Ansicht, der Westen müsse Gorbatschow "beim Wort" nehmen, so blieb auch in Frankreich Kritik nicht aus mit der genauso intensiv wiederholten Betonung, es müsse erst "Taten" geben. In Frankreich sah man gar nicht gerne, daß Michail Gorbatschow im Juni 1989 - inzwischen nicht nur Generalsekretär der KPdSU, sondern auch Staatspräsident der Sowjetunion und auf der Höhe seiner Macht - beim Staatsbesuch in der Bundesrepublik von den deutschen Massen allzu euphorisch mit "Gorbi, Gorbi"-Gebrüll überschüttet wurde. Eifersüchtig war man in Frankreich, weil Gorbatschow zuerst Bonn besuchte und erst danach Paris. Dort hatte François Mitterrand gegenüber seinen Mitarbeitern offenbar so deutlich seine Abneigung gegen die "Gorbi, Gorbi"-Hysterie in Westdeutschland zu erkennen gegeben, daß alles getan wurde, damit das französische Volk, das in Umfragen fast die gleiche Begeisterung für den Sowjetführer äußerte wie das deutsche, nicht mit ihm in Berührung kam.

Das war schwierig, denn schließlich besitzt Frankreich eine -wenn inzwischen auch kleine, so doch aktive - Kommunistische Partei, die für die Sozialisten bei Abstimmungen im Parlament und bei Wahlen immer noch wichtig ist. Nun sollte es zumindest eine Begegnung von Gorbatschow mit der kommunistischen Masse geben, doch wie so üblich, fand das Élysée einen Ausweg, der eine Jubelfeier verhinderte, aber dennoch allen erlaubte, das Gesicht zu wahren. Gorbatschow sollte mit den Kommunisten an der symbolträchtigen Place de la Bastille zusammenkommen, weswegen der große runde Platz gesperrt worden war, nur an einigen Ecken befanden sich hinter Absperrgittern kommunistische Demonstranten. Das Treffen war vor der Presse zuerst geheimgehalten worden, schließlich aber durften viele Photographen und Kamerateams auf dem Platz anwesend sein. Statt nun - wie sonst üblich - mit Absperrungen und Sicherheitsbeamten streng dafür zu sorgen, daß die Presseleute den sowjetischen Staatspräsidenten nicht behinderten, so daß es zu einem geregelten Treffen zwischen Masse und Staatsgast kommen würde, ersann man im Élysée eine List. Gorbatschow fuhr vor, die freigelassenen Journalisten stürzten auf seinen Wagen zu, er stieg aus, konnte sich aber kaum bewegen. Von einigen wahrscheinlich wirklich verzweifelten Sicherheitsbeamten wurde er an die eine Seite des Platzes geführt, doch war der sowjetische Staatsgast so eingekesselt von den häufig sehr rüden, drängelnden und schubsenden Photographen und Kameraleuten, die alle das "besondere" Bild schießen wollten, daß Gorbatschow nicht in die Nähe der Masse kam, die Masse ihn aber auch nicht sehen konnte. Nach einigen gescheiterten Versuchen wurde Gorbatschow wieder zu seiner Karosse geleitet und zurück in das Hôtel Matignon gefahren, wo Staatsgäste beherbergt werden. Das scheinbare "Malheur" mit der Presse hatte die Situation gerettet. 

Am 7. Oktober 1989 mahnte Michail Gorbatschow bei den Feierlichkeiten zum 40. Staatsjubiläum der DDR in Ost-Berlin Reformen an und sagte seinen berühmt gewordenen Satz: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Im französischen Außenamt, dem Quai d'Orsay, begannen die Diplomaten nun, sich Gedanken zu machen. Ihr Planungsstab, das Centre d'analyse et de prévision, wurde mit einer Stellungnahme beauftragt, doch, so ein betroffener Diplomat: "On n'est qu'au début d'une réflexion nouvelle. - Wir fangen gerade an, neu nachzudenken." (11) Sie fragten in den Kanzleien von Washington, London, Warschau an, wie die dortigen Regierungen die Lage einschätzten und wie sie zu handeln gedächten. Während Umfragen zeigten, wie positiv das französische Volk einer Wiedervereinigung gegenüberstand, suchten Politiker, Intellektuelle und Medien nach einer praktikablen Haltung. 

Claire Tréan, eine der klarsten politischen Kommentatorinnen der Tageszeitung "Le Monde [1] ", wirft am 14. Oktober in einer präzisen Analyse der Situation um Deutschland den Regierenden in Frankreich vor, den Kopf wie ein Vogel Strauß in den Sand zu stecken: "Das Thema ist äußerst heikel", schreibt Claire Tréan. "Jedes Wort kann in Frankreich eingeschlafene Ängste wecken, der mehr oder weniger bewußte Spuk, daß fünfundsiebzig oder achtzig Millionen Deutsche den Regierungsantritt des "Vierten Reiches" verkünden... Bei manchen in den intellektuellen und politischen Kreisen, die sich für Deutschland interessieren, sind die Vorbehalte aus geschichtlich-moralischen Gründen groß, obwohl sie zugeben, daß der Status quo nicht anhalten kann." Und sie zitiert Hubert Védrine, Mitterrands außenpolitischen Berater, der - im Gegensatz zu seinem Meister - erklärt, dank der Perestroika und der Bewegungsfreiheit könnten für eine Übergangszeit die Beziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR wie die zwischen Bundesrepublik und Österreich gestaltet werden. Laut Claire Tréan meinte Védrine, man solle sich nicht "zum Gefangenen eines einzig möglichen Szenarios machen: der Wiederherstellung eines einzigen deutschen Staates". 

Differenzierter äußerte sich demselben Artikel zufolge ein Berater des Centre d'analyse et de prévision, François Daguet: "Wenn man von vornherein die Möglichkeit der Wiedervereinigung ausschließt, verrechnet man sich. Ob man es will oder nicht, viele Deutsche verdächtigen Frankreich, den Status quo einer Veränderung hin zur Wiedervereinigung vorzuziehen. Sie haben alle den berüchtigten Satz François Mauriacs (12) im Kopf, weshalb als erstes diese Zweideutigkeit beseitigt werden muß." 

Massendemonstrationen in der gesamten DDR führen dazu, daß am 18. Oktober Erich Honecker zurücktreten muß; der neue SED-Chef Egon Krenz verspricht einen "ernstgemeinten innenpolitischen Dialog". 

Am selben Tag wird François Mitterrand, der den portugiesischen Staatspräsidenten empfängt, auf einer Pressekonferenz zur Entwicklung in der DDR befragt, und er betont, die Wiedervereinigung sei zwar durch die zunehmende Flucht von DDR-Bürgern nach Westdeutschland aktueller geworden, aber die grundsätzlichen Gegebenheiten hätten sich nicht geändert. Und, so der französische Staatspräsident: "Sind die Mächte, die an den Abkommen nach dem Kriegsende teilgenommen haben, bereit zur Wiedervereinigung? Diese Frage stellt sich hauptsächlich für die Sowjetunion." Der Präsident der Vereinigten Staaten stehe dem Gedanken eher zustimmend gegenüber, England und Frankreich hielten das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen für legitim. Aber, so wiederholt Mitterrand, demokratisch und friedlich müsse dies vor sich gehen; demokratisch, das sei ein Problem innerhalb der beiden deutschen Staaten, friedlich aber ein Problem des internationalen Gleichgewichts, das sich innerhalb Europas auspendeln müsse. 

Am 24. Oktober wird Krenz auch zum Vorsitzenden des Staatsrats gewählt. Am selben Abend fliegt Helmut Kohl für zwei Stunden nach Paris, um im Élysée mit François Mitterrand zu dinieren und dabei den deutsch-französischen Gipfel im November in Bonn und den EG-Gipfel im Dezember in Straßburg, wo es um die europäische Wirtschafts- und Währungsunion gehen soll, abzusprechen. Die einzigen - nicht neuen - Differenzen gibt es zum Thema Währungsunion. François Mitterrand, in dieser zweiten Hälfte des Jahres 1989 Europäischer Ratspräsident, drängt darauf, noch 1990 die Verhandlungen, die zur Währungs- und Finanzunion führen sollen, einzuleiten; denn Mitterrand verspricht sich als weitere Folge, daß sich daraus zwingend eine politische Union Europas ergeben würde, die Westdeutschland endgültig an den Westen binde. Helmut Kohl, der im Dezember 1990 Bundestagswahlen zu bestehen hat, bremst: Er will seine Klientel nicht verschrecken, weshalb die Konferenz erst nach den Wahlen - also eher 1991 - beginnen solle.

___________________

Anmerkungen

(11) Claire Tréan, in: Le Monde, 14.10.1989 

(12) "Ich liebe Deutschland so sehr, daß ich vorziehe, wenn es zwei davon gibt."