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'Zugehörigkeit oder Exklusion: Minderheiten, jüdische Mitbürger, Staatsangehörigkeit'
 
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Zugehörigkeit oder Exklusion: Minderheiten, jüdische Mitbürger, Staatsangehörigkeit

Die Staaten, die die Arbeitskraft der Migranten benötigten, waren nicht bereit, ihnen Bürgerrechte einzuräumen. Die Gesetzgebung zur Staatsbürgerschaft wurde restriktiver. Auch in der Gesellschaft formierte sich Widerstand gegen die Fremden: Italiener wurden in Frankreich ermordet, Polen in Deutschland diskriminiert. Neben den sesshaften Minderheiten wie Bretonen oder Dänen und den als Sondergruppe angesehenen Juden entstanden so mobile Minderheiten –  denen nach damaligem, der Nation verpflichtetem Denken keine Gleichheit vor dem Gesetz zustand: Exklusion statt Inklusion. Allerdings gab es große Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland. In letzterem konnte Staatsbürgerschaft nur über Abstammung erworben werden, in Frankreich genügte eine Bekenntnis zur politischen Nation und zur französischen Kultur.

Der Zensus des deutschen Reiches von 1910 zählte 64,9 Mio. Einwohner (die 1795, 1865 und 1871 annektierte Territorien eingeschlossen), darunter ca. 2,5 Mio. Polen (3,9 %), die kleine Minderheit der 104.000 Sorben oder Wenden (südöstlich von Berlin) von denen rund 80 % nur Sorbisch sprachen, und 1,13 Mio. Ausländer (1,95 %). Die annektierten Minderheiten erhielten die Staatsbürgerschaft unmittelbar bei Inkorporation. Mit Ausnahme der Elsässer, die eher mit dem modernen Begriff borderland culture zu beschreiben wären, gehörten alle anderen zu fremden Kulturen und Sprachen. (Anm. 1) Auch nach den Gebietsabtrennungen 1918 verblieben gemischt-kulturelle Regionen im Reich: 1920 leben dort 1,1 Mio. Polen (einsprachig Polnisch 1 Mio.), 174,000 Masuren (einsprachig166.000), 29.500 Tschechen (einsprachig 29.000), 20.000 Litauer (einsprachig 18.300), and 14.000 Dänen (einsprachig 13.000). Nach Abwanderung eines Teils dieser ethno-kulturell Anderen lebten 1925 im Reich noch 0,9 Mio. Minderheitenangehörige in einer Gesamtbevölkerung von 62,4 Mio. Die friesische Gruppe mit ihrem eigenen Dialekt und einer eigenständigen Kultur wurde nicht separat gezählt. (Anm. 2)

Auch in Frankreich gab es Minderheiten: Korsen und Katalanen, Basken und Bretonen, die Bewohner der elsässischen Region und die noch Okzitanisch sprechenden im Süden. Der Anteil der Einwanderer an der Gesamtbevölkerung wuchs von 2,1 % 1876 auf 2,9 % 1911.

Bevölkerungswachstum und Immigration in Frankreich 1800 bis 1949

                                                                   
Zeitintervall
 
 
Bevölkerungszunahme (%) a)
 
 
Prozentualer Anteil der Immigranten an der Gesamtbevölkerung b)
 
 
in Frankreich
 
 
im Vergleich dazu
 
 
G. B. + Irland
 
 
Deutschland
 
 
1800 – 1850 
 
 
29.6
 
 
69.0
 
 
45.1
 
 
1851
 
 
1.05
 
 
1866
 
 
1.7
 
 
1876
 
 
2.1
 
 
1850 – 1900
 
 
11.5
 
 
51.3
 
 
59.2
 
 
1881
 
 
2.6
 
 
1886
 
 
2.9
 
 
1891
 
 
2.8
 
 
1900 – 1949
 
 
1.2
 
 
25.2
 
 
68.0
 
 
1896
 
 
2.6
 
 
1901
 
 
2.6
 
 
1906
 
 
2.5
 
 
1911
 
 
2.9
 
 

a) Wander (1951): The Importance of Emigration for the Solution of Population Problems in Western Europe, a publication of the Research Group for European Migration Problems, Table p.51. Compare George Mauco’s figures of French population growth by 20-year periods, which are less dramatic but nonetheless telling constant declining growth: 1801-21: 4.9%; 1821-41: 5.6%; 1841-61: 3.4%; 1861-81: 2.7%; 1881-1901: 1.8%. Les étrangers en France (Paris: Armand Colin, 1932), p.18.

 

b) Mauco, Les étrangers en France, p. 38.

 

 Quelle : verändert nach Green, 1985: 147 

Bekannt ist, dass Angehörigen der bretonischen Minderheit, Männer wie Frauen, in großer Zahl in die Arbeitsmärkte von Paris wanderten. Sie siedelten sich in der Nähe des Ankunftsbahnhofes Montparnasse und im Industriegebiet von St. Denis an. Auch Menschen aus vielen anderen Regionen Frankreichs kamen nach Paris, siedelten in eigenen kulturellen Enklaven und arbeiteten in Kleinhandel oder bestimmten Arbeitsmarktsektoren: aus dem Limousin, aus der Auvergne etc.

In beiden Gesellschaften wurden Juden als "anders" oder als Minderheit angesehen. Sie waren seit ihrer Emanzipation im Gefolge der Erklärung der Menschenrechte während der französischen Revolution von diskriminierenden Bestimmungen befreit und gleichberechtigte Bürger/innen geworden, Deutsche bzw. Franzosen "mosaischen Glaubens". Ihre Geschichte war, ökonomisch und auch sozial, eine Erfolgsgeschichte. Andererseits blieben antisemitische Einstellungen bei Teilen der christlichen Bevölkerungen der beiden Staaten erhalten und konnten sich virulent äußern, z.B. in der Dreyfuss-Affäre [1] . Das Verhältnis der christlichen und jüdischen Glaubensanhänger veränderte sich nach 1880 durch die Abwanderung und Flucht verarmter Menschen jüdischen Glaubens aus dem Zarenreich. Der Beginn der Pogrome um 1880 führte zu Massenzuwanderung besonders nach Berlin und Paris (sowie nach London). Diese Flüchtlinge konnten nicht die Überfahrt nach Amerika bezahlen, auch wenn diese seit Beginn der Dampfschifffahrt relativ billig geworden war. Die Neuankömmlinge wurden in der christlichen wie jüdischen öffentlichen Meinung kritisch gesehen. Sie waren nicht nur arm sondern in vielen Fällen auch nur gering gebildet – das Schulsystem des Zarenreiches war wenig entwickelt und diskriminierte Juden. Auch hatten sie im Gegensatz zu den englischen, belgischen und deutschen Arbeitsmigranten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine speziellen beruflichen Fähigkeiten. Da diese russischen Untertanen genauso als "Juden" bezeichnet wurden wie die französischen und deutschen Bürger/innen jüdischen Glaubens, verschärften sich die durch diese sprachliche Eigenheit des Französischen und Deutschen vorgegeben diskriminierenden Diskurse.

Staatsangehörigkeit wurde für Migranten im Verlauf der Ausprägung der Nationalstaaten im 19. Jh. immer schwerer erreichbar. Unter der dynastischen Staatsform war Untertan, wer im Herrschaftsbereich geboren war. Ebenso konnten Zuwanderer Untertanen werden, wenn der Staat an ihnen ein ökonomisches oder kulturelles Interesse hatte. Im 19. Jh. entwickelte sich das Untertanenrecht zum Staatsbürgerrecht. Letzteres hatte jedoch oft keine explizit politische Zielsetzung, sondern entwickelte sich aus dem Familienrecht: Kinder hatten den gleichen Status wie die Eltern. Das konnte auch heißen, dass die Kinder von Zuwanderern Fremde blieben – wie noch bis in die Gegenwart in Deutschland üblich. Die Entwicklung von regionalen Affinitäten zu nationalem Bewusstsein und besonders der Übergang zu nationalistischem Denken führten zur Betonung des Abstammungsdenkens über "Blutslinien". Während das aus der Zeit der Revolution stammende Staatangehörigkeitsrecht Frankreichs politische Zugehörigkeit in den Vordergrund stellte, blieb das Recht der deutschen Staaten bis zur Gründung des 2. Reiches (1871) territorial verankert, d.h. ius soli [2] . Erst im Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 wurde dieses Prinzip als "mit der Reinerhaltung der Rasse und der Eigenart unseres Volkes unverträglich" bezeichnet und das ius sanguinis [3] , das genetische Abstammungsprinzip, zum Maßstab erhoben. Damit wurde Migranten/innen die Möglichkeit genommen, die Staatsbürgerschaft zu erwerben. In demokratischen Staaten, in denen die Gleichheit vor dem Gesetz Teil der Verfassungsordnung war, wurden so Ungleiche geschaffen, deren mindere Rechtsstellung ihre Wehrlosigkeit in Arbeits- und anderen Abhängigkeitsverhältnissen erhöhte.

_________________________

Anmerkungen

  1. Kaiserliches Statistisches Amt, Die Volkszählung im Deutschen Reiche am 1. Dezember 1910 = Statistik des Deutschen Reiches, vol. 240 (Berlin, 1915). 
  2. Statistik des Deutschen Reichs, vol. 401 (Berlin, 1930), S. 412-23, 491-92, 623-40.