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'Charlemagne alias Karl der Große'
 
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Charlemagne alias Karl der Große

Unterrichtsmaterialien zu diesem Kapitel: siehe Dokument 4 [1]

Der 1931 geborene Tomi Ungerer lernte nach der Annexion des Elsass durch die Deutschen zu seiner großen Überraschung im Geschichtsunterricht, seine Vorfahren seien gar keine Gallier gewesen, sondern Germanen und, was Charlemagne betreffe, so habe dieser kein einziges Wort Französisch gesprochen und heiße in Wirklichkeit Karl der Große (6). Charlemagne oder Karl der Große? Eginhard oder Einhard, Witikind oder Widukind? Die Reihe von sprachlich unterschiedlichen Namen, die ein und dieselbe historische Person bezeichnen, ließe sich unschwer fortsetzen. Sie verweist nicht nur auf eine sprachliche Pluralität, sondern, darüber hinaus, auf unterschiedliche Bewertungen und kulturelle Muster im Umgang mit diesen Personen. Dies gilt in besonderem Maße für eine geschichtlich so bedeutsame Person wie den Frankenherrscher Karl, der von den französischen Königen und den deutschen Kaisern des Mittelalters gleichermaßen als ruhmreicher Ahn und Herrschaftsvorbild beansprucht wurde. Die Bezeichnungen Charlemagne und Karl der Große verweisen so auf unterschiedliche historiographische Traditionen, die durch viele Jahrhunderte hindurch das jeweilige historisch-politische Selbstverständnis, oft gegeneinander, wiederspiegelten. Aus der Perspektive der hier unterbreiteten Ansichten lässt sich die oben gestellte Frage klar und eindeutig beantworten: Sowohl Charlemagne als auch Karl der Große bilden mit ihrer ganz unterschiedlichen nationalgeschichtlichen Einbindung den legitimen Gegenstand einer Geschichtsbetrachtung, die ihr Fach als eine universale Disziplin versteht und den ihr möglichen Beitrag zur Überwindung nationaler Verengungen leisten will (7).

Die im vierten Teil vorgelegten Texte aus Geschichtsbüchern der 3. Republik in Frankreich und der Zeit des 3. Reiches in Deutschland sollen am Beispiel der Sachsenkriege Karls des Großen die Pluralität der Geschichtsbilder aufzeigen, die sich hinter der Differenz der Namen verbirgt. Wie aus einem Vergleich dieser Texte hervorgeht, zeigen sich einerseits mancherlei Entsprechungen und Übereinstimmungen, z. B. was den faktischen Verlauf der fränkischen Eroberungen zwischen Rhein und Elbe betrifft, andererseits aber auch ganz unterschiedliche und gegensätzliche Deutungsmuster und Vereinnahmungsstrategien, die auf verschiedenartige gesellschaftliche Wertesysteme verweisen. Unterstreichen die französischen Darstellungen durchgängig die zivilisatorischen Folgen der fränkischen Eroberungen, deren grausamer Charakter oft mit drastischen Begriffen beschrieben wird, so lassen die deutschen Schulbuchtexte aus der Zeit des 3. Reiches klar ein gebrochenes Verhältnis der nationalsozialistischen Geschichtsauffassung zu dem Frankenherrscher erkennen. Nicht Karl, sondern sein sächsischer Gegenspieler Widukind wird mit Arminius in die Reihe der deutschen Nationalhelden aufgenommen. Das Karl belassene, überaus fragwürdige Verdienst, die Deutschen zu einem Volk "zusammengezwungen" zu haben, wird mehr als relativiert mit dem Vorwurf, das "deutsche Volkstum" der "Ausländerei" und "römischem Fremdgeist" preisgegeben zu haben. Beide Darstellungen geben sich unschwer als jeweilige Kinder ihrer eigenen Zeit und einer bestimmten geschichtlichen Epoche zu erkennen. Deutlich zeigt sich allerdings auch, dass die Ausgrenzung und Verunglimpfung Karls des Großen in den nationalsozialistischen Geschichtsdarstellungen seiner Person und seinem Werk nicht gerecht werden und mit den darin verwendeten Begriffen auch nicht angemessen dargestellt werden können (8). 

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Anmerkungen

(6) Der hier verwendete Untertitel greift auf eine Formulierung Ungerers (1991, 47) zurück. Dieser schrieb: "Quant à l'enseignement de l'histoire, imaginez ma surprise d'apprendre que nos ancêtres n'étaient pas des Gaulois mais des alte Germanen, de vieux Germains, que Charlemagne alias Karl der Grosse ne parlait pas un mot de français et que les Francs, les Burgunder, en copinage avec les Vandales, étaient venus de l'est pour coloniser la France. "

(7) Neben der grundlegenden Darstellung von K. F. Werner (1995b) beleuchten auch die Analysen von Chr. Amalvi (1999), L.E. Saurma-Jeltsch (1994) und B. Schneidmüller (2000) wichtige Aspekte der nationalgeschichtlichen Vereinnahmung Karls in Frankreich und Deutschland.

(8) Sehr hilfreich für die Analyse des ideologischen Gehalts der Nazi-Sprache sind die Untersuchungen von Sternberger/Storz/Süskind und H. Weinrich. Jacques Le Goffs Geschichte Europas liest sich als eine durch ihre Vernünftigkeit wohltuende Gegendarstellung zu den nationalsozialistischen Thesen. Z. B. (S. 31): "Die Vermischung von Völkern bedeutet Fortschritt. In Gallien zum Beispiel begünstigte die Verbindung der beiden größten Völker, der Gallier, die zu Gallorömern wurden, und der germanischen Franken, die sich bereits im 5. Jahrhundert dort niedergelassen hatten, die Herausbildung und Entwicklung des späteren Frankreich."

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