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'Zwei Fallbeispiele: Saarlouis und Marpingen'
 
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Zwei Fallbeispiele: Saarlouis und Marpingen

Als die Saarfrage zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand, beherrschten militärische Ereignisse den europäischen Kontinent. Ganz im Gegensatz zum Elsass oder zu Lothringen war die Saarfrage jedoch zu keinem Zeitpunkt primärer Gegenstand kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich. Trotzdem hat die Militärgeschichte Europas [1] tiefe Spuren an der Saar [2] hinterlassen, stellen Kriegserfahrung und Kriegserlebnis wesentliche Elemente des kollektiven Erinnerns dar, auf dem die Saarfrage beruhte.

Abbildung 14:

Grundriss der barocken Festungsstadt Saarlouis



Vgl.: Anne Hahn, Die Entfestigung der Stadt Saarlouis, St. Ingbert 2000 (= Schriften des Landkreises Saarlouis 4).

Die Anfänge der militärischen Prägung der Region reichen dabei vergleichsweise weit zurück. Das prominentste Beispiel stellt sicherlich die Stadt Saarlouis dar, die, als Grenzfestung [3]  konzipiert, bereits 1680 unter der Ägide des französischen Festungsbaumeisters Sébastien le Prestre de Vauban [4]  errichtet wurde. Nach der preußischen Machtübernahme nach 1815 wurde der strategische Wert der Festung anfangs hoch eingeschätzt: Mit großem Aufwand wurde die Anlage vollendet und mit neuen Garnisonsgebäuden aufgewertet. Nach der Verschiebung der deutschen Grenzen Richtung Westen nach 1871 jedoch verlor die Festung, die bereits vorher aufgrund der Weiterentwicklung der Waffentechnik aus dem Mittelpunkt der militärstrategischen Planung gerückt war, schlagartig an Bedeutung. Nur mit Mühe gelang es der Kommunalpolitik, die ökonomisch wichtige Garnison zu halten. Der militärische Charakter der Stadt, der sich zunehmend zur Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung entwickelt hatte, wurde aber mit aufwändigen Entfestigungsmaßnahmen weitgehend zerstört. 

Abbildung 15:

Entfestigungsarbeiten in Saarlouis

Grundsteinlegung der evangelischen Kirche in Saarlouis am 22. August 1904. Im Hintergrund Entfestigungsarbeiten.

Vgl. Anne Hahn, Die Entfestigung der Stadt Saarlouis, St. Ingbert 2000 (= Schriften des Landkreises Saarlouis 4).

Die Entfestigung der Stadt Saarlouis steht damit im historischen Kontext jenes säkularen Trends, der seit der Jahrhundertmitte mit der Niederlegung umfangreicher Befestigungsanlagen das Städtewachstum in weiten Teilen Europas gefördert hat. Nach dem Krieg von 1870/71 wurde davon auch das frühere deutsch-französische Grenzgebiet erfasst, wodurch auch eine Vielzahl von anderen Klein- und Mittelstädten [5]  ihr Antlitz völlig veränderten. Dies bildet in strukturhistorischer Perspektive [6]  eine Gemeinsamkeit im saarländisch-lothringischen Raum dar, die jedoch aufgrund der regional und lokal sehr unterschiedlichen Perzeption dieser Modernisierung lange nicht erkannt wurde. 

Die in der lokalen Perzeption der Entfestigungsmaßnahmen besonders im lothringischen Teil des öfteren feststellbare Überformung kommunal- und stadtplanungspolitischer Konflikte durch die nationale Frontstellung ist bei der Entfestigung in Saarlouis nicht feststellbar. Dies ist neben der sehr viel unbefangeneren Kooperation mit dem an den Maßnahmen beteiligten deutschen Militär im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass in Saarlouis eine breite Mehrheit in den Entfestigungsmaßnahmen die Chance eines neuen ökonomischen Erfolgsmodells für die Stadt erkannte. Deren Wachstum wurde durch die großzügige Erschließung neuer Flächen, durch die Aufwertung der Infrastruktur und die Verbesserung der verkehrstechnischen Anbindung an die regionalen Zentren gefördert. Das Wachstumsmodell der Stadt Saarlouis, das im Wesentlichen auf ihrer administrativen Funktion und ihrer Ausrichtung auf Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen für das Umland beruhte, unterschied sich recht deutlich von demjenigen der meisten anderen Teile des Gebietes an der mittleren Saar. Den entscheidenden Wachstumsimpuls für die Region setzte - ähnlich wie im westlich und nördlich anschließenden lothringisch-luxemburgischen Kohle- und Eisenbecken - die Erschließung der Bodenschätze des Großraums und der Aufbau einer groß konzipierten Schwerindustrie. Diese Vorgänge lösten eine enorme Steigerung der Wirtschaftsleistung der bis dahin überwiegend agrarisch geprägten Region aus. Gleichzeitig stieg die Bevölkerungszahl [7]  vor allem durch die Zuwanderung von Arbeitskräften binnen weniger Jahrzehnte auf fast das Sechsfache. 

Abbildung 16:

Beschäftigte im Steinkohlenbergbau in der Saargegend


Quelle: Jürgen Karbach u. Paul Thomes, Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Saarlandes (1792-1918), Saarbrücken 1994 (= Geschichtliche Landeskunde des Saarlandes 3,2), S. 238.

Diese beiden Vorgänge lösten auf regionaler Ebene einen komplizierten Anpassungsprozess aus, in dem sich zwei Faktoren herauskristallisierten, die für die weitere Geschichte der Saarfrage entscheidende Bedeutung gewannen. Die katholische Kirche konnte, basierend auch auf der durch die Zuwanderung überwiegend katholischer Arbeiter ins Industrierevier eingetretenen Verschiebung in der konfessionellen Verteilung, ihre Stellung stärken. Besonders in den ländlichen, alt-katholischen Teilen der Saargegend, die seit Jahrhunderten zum Bistum Trier gehörten, führte auch die Kirchenpolitik Preußens im Kulturkampf zu heftigen Gegenreaktionen, die in der allerdings von der Amtskirche nie anerkannten Marienerscheinungen in Marpingen [8]  gipfelten. 

Fig. 17


Apparition de la Vierge Marie à Marpingen, en 1876






Cf. David Blackburn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen; Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek bei Hamburg 1997

Den zweiten Faktor kennzeichnet das zeitgenössische Schlagwort "Saarabien": Die durch die Zuwanderung und die schnelle Industrialisierung ausgelösten gesellschaftlichen, politischen und innerbetrieblichen Konflikte wurden durch eine patriarchalische und streng auf Disziplinierung der Arbeiter ausgerichteten Betriebsführung [9]  sowohl der privatwirtschaftlich geführten Eisen- und Stahlindustrie als auch des in der preußischen Bergwerksdirektion staatlich organisierten Kohlenwirtschaft geprägt. Insbesondere sozialdemokratische Initiativen konnten dadurch an der Saar erst sehr spät Fuß fassen; die starke Ausrichtung auf das nationale Bekenntnis entwickelte sich zu einer wichtigen integrativen Klammer in der Arbeiterschaft [10]

Der Erste Weltkrieg bedeutete in dieser Hinsicht einen nachhaltigen Einbruch. Nach dem frühzeitigen Scheitern der deutschen Militärstrategie wurden die Saarstädte zwar nicht Ort von Kampfhandlungen, aber durch die durchziehenden Truppen- und Verwundetentransporte und durch die Flugzeugangriffe doch immerhin Frontstädte: Der Geschützdonner der Stellungskriege war an bestimmten Tagen selbst in Saarbrücken zu hören. Zwar blieb den Bewohnern der Saarregion die traumatische Erfahrung ihrer Nachbarn im Westen [11] erspart, die zum Kampf im Dienste der "falschen" Seite herangezogen wurden; für die Bevölkerung im Grenzgebiet und besonders für die nationalisierte Arbeiterschaft jedoch stellte die für viele unerwartete Niederlage und vor allem die Abtrennung des Saargebiets von Deutschland einen nachhaltigen Schock dar. 

Wesentlichen Anteil daran trugen die Begründung und Durchführung der französischen Politik an der Saar. Politisch gerechtfertigt wurde die Abtrennung des Saargebiets von Seiten Frankreichs mit in dieser Form neuen, bis dato allenfalls am Rande angeführten historischen Argumenten [12] , die in dem später berühmt gewordenen Diktum von Georges Clemenceau [13]  gipfelten, der von "150.000 Saarfranzosen" sprach, die es zu repatriieren gelte.

Dies rief heftigen Widerspruch auf deutscher Seite und vor allem im Saargebiet hervor. Die Abtrennung des Saargebiets und die Äußerung Clemenceaus schienen die bei der Entwicklung der eigenen Position in der Saarfrage antizipierten französischen Einstellungen vollständig zu bestätigen. Auch das Auftreten französischer Wirtschaftseliten in der Saarindustrie und vor allem die Unternehmenspolitik im Saarbergbau, die in die Hände der Mines Domaniales gelegt wurde, und die sich in vielen Punkten deutlich von der bisher geübten Praxis unterschied, wurde kritisiert. Bei der Arbeiterschaft genauso wie bei weiten Teilen der Wirtschafts- und Verwaltungseliten des Saargebietes entstand auf diese Weise sehr früh eine gegenüber der Saargebietsverwaltung und gegenüber Frankreich oppositionelle Haltung. Erhöhte Konfliktbereitschaft, wenn nicht sogar Obstruktion waren die Folge.

Abbildung 18:

Empfehlungen zum Schutz vor Fliegerangriffen in Saarbrücken