French
German
 
Seite zur Sammlung hinzufügen
'Meine Müller-Jahre'
 
1 Seite(n) in der Sammlung
 
 
 
 
 

Sie sind hier: Deuframat > ... > Meine Müller-Jahre

Meine Müller-Jahre

Ich bin Heiner Müller [1]  (der damals „Müller Deutschland“ genannt wurde) 1976 begegnet, als ich zur Zeit der Biermann-Affäre [2]  an der Berliner Schaubühne zuerst mit Peter Stein und dann mit Luc Bondy [3]  arbeitete. (3) Ich hatte zwei Stücke (4) von Hartmut Lange [4]  übersetzt, der Anfang der sechziger Jahre die DDR verlassen und mit Dieter Sturm die Schaubühne gegründet hatte, bevor er sich mit diesem überwarf. Müller schlug mir vor, einige seiner Texte zu übersetzen: MAUSER, DIE HAMLETMASCHINE, DER HORATIER, LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUßEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. So hat es angefangen. Eine typische Situation deutschen Streits: zwischen Sturm und Lange, zwischen Müller und der Schaubühne. Damals war ich verblüfft festzustellen, dass es an der Schaubühne einige gab, die hin und wieder in den Osten fuhren, und einige, die das niemals taten.

Abbildung 3:

Heiner Müller während einer privaten Dichterlesung

 

 

 

Internet-Quelle [5]

Beim Übersetzen von LEBEN GUNDLINGS... bekam ich eine ungeschminkte Sicht auf den preußischen Hof zur Zeit des Soldatenkönigs und seines Sohnes Friedrich II. Ein anderes Stück von Müller, GERMANIA TOD IN BERLIN, brachte mich gleichzeitig mit einigen quasi mythischen Komplexen der deutschen Geschichte in Berührung: Berlin 1919, Stalingrad, die Nibelungen, Friedrich von Preußen - und mit einer Chronik der fünfziger Jahre in der DDR. Beim Lesen und Übersetzen entdeckte ich Geschichte, machte eine fremde und rätselhafte, abstoßende und faszinierende Erfahrung. Solche Stücke sind schwer zu inszenieren und zu spielen; aus Gründen, die in der Ästhetik des Fragments begründet sind: der Stoff bringt es mit sich, dass das Werk unvollendet bleibt, ohne Anspruch darauf, ein Ganzes darzustellen und eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende zu erzählen. Das Fragment bezeichnet die Zerstückelung des Erzählverhaltens. Beide Stücke wurden übrigens noch nicht in Frankreich aufgeführt, abgesehen von einer Inszenierung (GUNDLING) mit Schauspielstudenten des Théâtre National de Strasbourg Anfang der 80er Jahre. GERMANIA wurde in Brüssel am Théâtre National de Belgique inszeniert. (5)

 

Auszug aus dem Spielplan des Theaters am Schiffbauerdamm 2004, Berlin:
LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI
Müllers Traum von Preußen, ein "Greuelmärchen". Mit großer Bildkraft zeichnet Müller ein Sittengemälde deutscher Geschichte. Der "Soldatenkönig" zwingt seinen Sohn, Soldat zu sein - das Volk nennt ihn später "Friedrich den Großen". Genies wie Voltaire, Schiller und Kleist torkeln über Preußens blutgetränkte Erde und Lessing findet sich auf einem Autofriedhof in Amerika wieder - "Vergessen ist Weisheit". Humanismus - Aufklärung - was ist davon geblieben bis auf "Asche, die aus den Büchern weht... " GUNDLING: Der Mensch ist ein Zufall, eine bösartige Wucherung. Und was wir Leben nennen, meine Herren Majestäten, ist so etwas wie Masern, eine Kinderkrankheit des Universums, dessen wahre Existenz der Tod, das Nichts, die Leere. Vorwärts, Preußen!

Internet-Quelle [6]

 

 

Beide Stücke behandeln explizit die deutsche Geschichte und das deutsche Imaginäre, wie Müller sie sieht. Sie erscheinen wie eine pädagogische Abhandlung mit sarkastischem Unterton als Einführung in die deutsche Geschichte und Kultur. Zutreffender scheint mir, in dem einen wie auch in dem anderen Stück auf das Motiv der Spaltung hinzuweisen. In GERMANIA wird sie in der Struktur sichtbar: alle ungeraden Szenen behandeln das deutsche Imaginäre, während die Abfolge der geraden Szenen eine Chronik der DDR ergibt. In GUNDLING... wird dieses Motiv der Spaltung durch die Person Friedrichs II. in einer Hinrichtungsszene deutlich, die an die vorgetäuschte Hinrichtung des Prinzen von Homburg denken lässt. Die Szene stellt sich folgendermaßen dar: auf der einen Seite der junge Friedrich, auf der anderen sein Freund, Leutnant Katte; man nimmt dem einen die Augenbinde ab, die man dem anderen anlegt; das Hinrichtungskommando geht in Stellung, und der Leutnant wird vor den Augen des Prinzen erschossen. Indem dieser Teil seiner selbst ausgelöscht wird, ist er bereit, ein großer König zu werden.

Abbildung 4:

Podiumsdiskussion in der Volksbühne über „Gewalt, Antike, Sexualität“ mit (v.l.n.r.) Hans Neuenfells, Heiner Müller (vorgebeugt), Ernest Bornemann und Gottfried Helnwein (1986)

 

 

Internet-Quelle [7]

Dieses Spaltungsmotiv, dessen Gegenwart Müller in der Geschichte und im Imaginären sucht, dieses Motiv, das durch die Mauer, die es nicht mehr gibt, materialisiert war, ist dem französischen Publikum natürlich völlig fremd. Es wäre falsch zu denken, dieses Motiv der Spaltung beträfe nur die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg bis in diese letzten Jahre. Um sich davon zu überzeugen, denke man an die Thematik, die Dramaturgie und an die Erzählstruktur in den Stücken Heinrich von Kleists. Oder an den Familienstreit, der in der Zwischenkriegszeit die Brüder Mann, Heinrich und Thomas, lange entzweite. Vor kurzem las ich in der ZEIT einen Artikel, der im wesentlichen meinte, man solle sich mit dem Werk von Thomas Mann begnügen. Man denke auch an die geographische Situation Deutschlands zwischen Ost und West und an die Tatsache, dass die unter Bismarck entstandene deutsche Einheit aus dem Aneinanderfügen geo-historischer Räume bestand, die sich in verschiedenen politischen und ökonomischen Rhythmen entwickelten (die preußische Kartoffel und die rheinländische Industrie). 

Es gibt zweifellos eine Menge objektiver und historischer Gründe für das periodische Auftreten ähnlicher Abspaltungssymptome. Es ist ein bisschen so, als liefe eine geo-politische Spalte durch den Kontinent, eine Spalte, deren oft verheilte Spur eine Zone der Erdstöße bezeichnet, von denen es falsch wäre anzunehmen, sie beträfen lediglich Deutschland oder rührten von einer Politik der Nationen her, denn es geht auch um das Aufeinandertreffen religiös beeinflusster Gebiete. Wenn ich das sage, gehe ich über den literarischen Kommentar der Müllerschen Werke hinaus, doch die Auseinandersetzung mit dem Werk dieses Autors fordert solche politische Reflexionen heraus.

Manchmal half mir der Zufall. Gilles Aillaud, Jean-Francois Peyret [8]  und ich erhielten 1982 die Gelegenheit, am Petit-Odéon mit Heiner Müllers Werk nahezu alles machen zu können, was wir wollten. Ein Stück inszenieren wollten wir nicht. Daher haben wir eine «Theater-Werkstatt», eine Übersetzer-Werkstatt mit vier bis fünf Personen, eingerichtet. Das Ergebnis nach einem Monat Probenarbeit: vier Abende, die dem Werk Müllers gewidmet waren. Der Titel, HEINER MÜLLER DE L’ALLEMAGNE, bezog sich auf die beiden berühmten Werke von Madame de Staël und Heinrich Heine. Mit dieser Veranstaltung wurde das Théâtre de l'Europe eingeweiht. (6) Ohne Arglist haben wir damals die Mauer symbolisch mitten in Europa errichtet. In dieser Aufführung stand Müller selbst auf der Bühne und rezitierte einige seiner Texte auf deutsch, die dann von den Schauspielern, zwei Franzosen, Bertrand Bonvoisin und Jean Badin, und einer Amerikanerin, Kate Manheim, vorgetragen wurden. Kate Manheim verglich manchmal die französische Übersetzung mit der amerikanischen. Die Gegenüberstellung der Sprachen, im wesentlichen Deutsch/Französisch, wurde durch die Verdoppelung des Autors versinnbildlicht: ein Schauspieler spielte Müller in einer Interview-Situation mit einem Journalisten vom SPIEGEL, und dabei mimte er Müllers Gesten: er schenkte sich Whisky ein, wenn sich der Autor Whisky einschenkte, usw., und dies fand vor den Augen des am selben Tisch sitzenden Autors statt. Diese „Kunstgriffe“ bildeten eine Art bildlicher Darstellung der Spaltung und machten das Publikum auf dieses Thema aufmerksam, das in Müllers Texten wie ein „Leitmotiv“ (im Original deutsch) wiederkehrt.

Abbildung 5/6/7:

Französische Übersetzungen der Werke von Heiner Müller durch Jean Jourdheuil

 

Internet-Quelle [9]

______________________

Anmerkungen

(3) 1973 war Jean Jourdheuil Peter Steins Dramaturg bei dessen Inszenierung von Labiches DAS SPARSCHWEIN, nachdem er mit Jean Pierre Vincent dasselbe Stück am Théâtre National de Strasbourg in der Spielzeit 1971/72 inszeniert hatte. Er hat dann in der Spielzeit 1976/77 mit Ellen Hammer an der Dramaturgie für Alfred de Mussets MAN SPIELT NICHT MIT DER LIEBE in der Inszenierung von Luc Bondy 1976-77 zusammengearbeitet.

(4) TROTZKI IN COYOACAN und JENSEITS VON GUT UND BÖSE ODER DIE LETZTEN STUNDEN DER REICHSKANZLEI.

(5) In den jeweiligen Inszenierungen von Hervé Loichemol und Philippe van Kessel.

(6) Das Théâtre de l'Europe wurde auf Initiative von Jack Lang gegründet. Sein Sitz ist das Théâtre de l'Odéon, sein erster Intendant war Giorgio Strehler (1983-89) und sein Nachfolger Lluís Pasqual