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'Ein Ziel - mehrere Wege? Kultur als Dimension der europäischen Integration'
 
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Ein Ziel - mehrere Wege? Kultur als Dimension der europäischen Integration *

Ein Gespräch mit Michel Colardelle, Gesine Schwan und Aleksander Smolar **

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Dieses Interview wurde in deutscher und polnischer Sprache veröffentlicht in: Dialog - Deutsch-polnisches Magazin, Nr. 65 (2003/2004), S. 21 - 35. Die Dokumentation ist vom Deuframat-Team leicht verändert und ergänzt worden. Der Originalbeitrag ist auch im Internet abrufbar unter http://www.dialogonline.org/artikel.php?artikel=29 [1]  (03.03.2006). Die Genehmigung der Autoren und der Redaktion zum Wiederabdruck liegen vor.

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Michel Colardelle, Direktor des Nationalmuseums für Völkerkunde in Paris

Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin, Rektorin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder

Aleksander Smolar, Professor am Nationalen Zentrum für Forschung (CNRS) in Paris und Vorstandsvorsitzender der Batory-Stiftung in Warschau

Marc Nouschi, bis August 2003 Direktor des Französischen Instituts in Berlin, seit September 2003 Direktor des Französischen Instituts in Warschau

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Abbildung 1:

Die Gesprächsteilnehmer von links nach rechts:
Aleksander Smolar, Gesine Schwan, Marc Nouschi, Michel Colardelle

 

 

Foto: Emanuela Danielewicz

Marc Nouschi:
Jean Monnet wird der folgende Satz über die europäische Integration zugeschrieben: "Wenn ich noch einmal anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen." Es ist umstritten, ob der Satz wirklich von Monnet stammt, dennoch gefällt mir diese Aussage sehr. Meine drei Gäste haben jetzt die schwierige Aufgabe, über die dialektische Beziehung zwischen Kultur und Europa nachzudenken. Ich möchte alle drei fragen: Was verstehen Sie unter kultureller Identität? Wir reden viel darüber, aber keiner übernimmt das Risiko, sich auf eine Definition festzulegen. Wir wollen im Laufe der Diskussion auf die wenig klaren kulturellen Grenzen Europas zu sprechen kommen. Doch zuerst, beginnend mit Frau Schwan: Was ist kulturelle Identität?

Gesine Schwan:
Ich versuche, die Antwort an drei Punkten festzumachen. Zunächst ist Kultur ein allgemeiner Begriff, der alles umfasst, was in Opposition zur Natur steht. Kultur ist all das, was die Menschen vollbracht haben. Dazu gehören Literatur, schöne Künste, aber auch Industrie und Landwirtschaft. Wir könnten die Idee auch stärker eingrenzen und sagen, eine Unterscheidung zwischen Frankreich und Deutschland kann schon hier gemacht werden, etwa im Verhältnis von Kultur und Zivilisation. Kultur ist, der Begriffsgeschichte nach, deutsch besetzt, während der Begriff Zivilisation aus Frankreich stammt. Bei dem Film über die Familie Mann ist dieser Unterschied deutlich geworden.

Abbildung 2:

Prof. Dr. Gesine Schwan während der Podiumsdiskussion. Prof. Schwan ist Präsidentin der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Sie war Kandidatin der Opposition zur Wahl des Bundespräsidenten im Mai 2004


Foto/Photo: Emanuela Danielewicz

Kultur gilt traditionell als hoch angesiedelt und umfassend, eben als das Besondere und historisch Entstandene. Nicht abstrakte Bereiche, wie zum Beispiel Technik bleiben dabei ausgespart. Eine andere Definition zielt auf die politische Kultur. Was bedeutet politische Kultur? Es handelt sich um einen neutralen Begriff, der Mentalitäten, Haltungen, Wertesysteme umfasst und institutionelle Beziehungen prägt. Hierbei gibt es eine lange Tradition, die auf Montesquieu zurückgeht. Als sie diesen Satz von Monnet erwähnten, "wenn ich noch einmal anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur anfangen", dachte ich mir, wie schwierig, ja geradezu falsch das wäre. Kultur ist ein Faktor der sich nur sehr langsam verändert. Aufgrund seiner Wichtigkeit, können wir ihn nicht mit technischen Instrumentarien durchsetzen und nicht so einfach manipulieren.

Abbildung 3:

Die Königin Europa von Francois Dubois (Paris 1810).
Reproduktion aus dem Ausstellungskatalog "Idee Europa - Entwürfe zum 'Ewigen Frieden'. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union." Deutsches Historisches Museum 2003.

 

 

 

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, Umschlag

Die Herausbildung Europas ist in Analogie zu anderen Entwicklungen und Übergängen von Regimes, Regierungen und Zivilisationen zu sehen. Den Institutionen im weitesten Sinne sollte zuerst unsere Aufmerksamkeit gelten. Sei es die Trennung der Gewalten oder die Verfassungsgebung. Im zweiten Schritt müssen wir auch die Kultur berücksichtigen, denn die Institutionen können nicht allein aus sich heraus, ohne Kultur funktionieren. Zwischen der Wirksamkeit beider Sphären liegt stets eine Zeitdifferenz. Was eine Herausforderung für jede Transformation und auch für das sich vereinigende Europa darstellt, gerade weil es Unterschiede zwischen den Kulturen und den Denkweisen in Europa gibt und in etlichen Bereichen auch dauerhaft geben wird.

Aleksander Smolar:
Ich möchte gerne hier mit einer biographischen Bemerkung in das Gespräch einsteigen. Seit 1989 lebe ich zwischen Frankreich und Polen. In Frankreich, wohin ich emigriert bin, arbeite ich als Politikwissenschaftler im Nationalen Wissenschaftszentrum (CNRS). Ich will mich der Identität zuwenden, auf die sich Ihre Eingangsfrage bezog. Kollektive Identität ist in unserem Fall national konnotiert. Identität stützt sich auf ein lebendiges Gedächtnis, basiert auf Werten sowie deren mythologischen und trennenden Bestandteilen. Kollektive Identität bildet sich nicht zuletzt aus der Gegenüberstellung, aus der Opposition zum fremd Empfundenen, schlicht gesagt, zum Anderen. Das ist ein Wesenszug, welcher einer diffusen europäischen Identität eigen ist.

Wir müssen die problematischen Beziehungen Europas zu seiner Außenwelt, zum Beispiel zur muslimischen Welt, ernst nehmen. Die wichtige Frage lautet: Wie gestalten wir die Beziehungen zwischen dem Christentum und der Orthodoxen Kirche? Seid kurzem beschäftigen uns die konflikthaften Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Robert Kagan, Wissenschaftler und Publizist mit großen Einfluss auf die US-Administration, forscht seit Jahren über dieses transatlantische Verhältnis, wobei er auch mit Hilfe von Geschlechterbeziehungen argumentiert, wenn er davon ausgeht, Europa sei von der Venus, die Vereinigten Staaten hingegen von dem Mars.

Abbildung 4:

"Kultur" wird auch heute vielfach immer noch als Repräsentant des Schönen, Wahren und Guten verstanden. Der Begriff ist damit eingeengt auf die zweite Bedeutung von "cultura": auf Kunst und Geisteskultur. Ein solcher enger Kulturbegriff beinhaltet immer auch das Bemühen um Abgrenzung gegenüber allem demzufolge "Nicht-Kultivierten", wozu nicht zuletzt auch die "Massenkultur" (H. Marcuse) zählt.

Internet-Quelle [2]

Gesine Schwan:
Kultur, die kultivierend wirkt, karikiert zugleich das, was sich in der US-amerikanischen Kultur in Gestalt von Disneyland ausdrückt. Ist es Zufall, dass Sie dies nicht erwähnt haben? Ich halte die Idee, Kultur so zu unterscheiden, für wenig hilfreich, denn Vergnügung und Freizeitbeschäftigung bilden natürlich einen Teil der Kultur. Ich habe den Eindruck, dass in der Musik immer weniger zwischen der Unterhaltungsmusik und ernster Musik unterschieden wird.

In einer Deiner Bemerkungen, Marc, hörte ich eine gewisse Unterstellung heraus, als ob es eine Opposition zwischen den Vereinigten Staaten und Europa derart gebe, dass die Vereinigten Staaten mit ihrer Unterhaltungskultur oberflächlich seien, während Europa doch viel seriöser sei. Ich zweifele, ob das ein zutreffender Blick auf die Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten ist. Nach meiner ersten Antwort habe ich noch einmal kurz über das Verhältnis von Kultur und Wirtschaft nachgedacht. Für die Herausbildung Europas war die Gegenüberstellung von Kultur und Wirtschaft sicher wichtig, worauf auch das Monnet-Zitat anspielt. Ich denke, durch diesen Satz wollte Monnet einfach hervorheben, dass alles, was in der Wirtschaft und in den Institutionen als Fortschritt erreicht worden ist, noch nicht ausreicht, eine europäische Identität herauszubilden, ohne die Nationalkulturen als Synonym für Mentalitäten und Denkweisen zu kennen und partiell miteinander zu versöhnen.

Abbildung 5:

"Im Etappenquartier vor Paris am 24. Oktober 1870"
 (Anton von Werner, 1894, Gemälde, Nationalgalerie Berlin). Das Gemälde bringt den Gegensatz zwischen dem rauhen Kriegshandwerk und den kulturellen Bedürfnissen der vielen "gebildeten" Soldaten zum Ausdruck; die schlammbedeckten Männer, die es sich in dem Salon eines französischen Schlosses bequem gemacht haben, nutzen die Gelegenheit, um ein kleines Hauskonzert zu geben.

Internet-Quelle [3]

An dieser Stelle möchte ich noch einmal das bekräftigen, was Aleksander Smolar eben gesagt hat: In vielen Untersuchungen zum kollektiven Gedächtnis wurden gänzlich unterschiedliche Erfahrungen in Europa konstatiert, die einander ausschließen oder konkurrieren, so als ginge es darum, eine europäische Identität gegen die Chinesen, gegen die Amerikaner oder gegen die Asiaten zu etablieren. Das hilft uns nicht weiter, schlimmer noch, es verfestigt Stereotype. Wenn wir substantiell vorgehen wollen, dann sollten wir uns die Zeit nehmen, die verschiedenen historischen Erfahrungen innerhalb Europas gegenüberzustellen. Angesichts unterschiedlicher nationaler Traditionen, Blickwinkel und kultureller Muster ist dabei keine Homogenität zu erwarten.

Abbildung 6:

Gottfried Henselus: Sprachenkarte von Europa, um 1710

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 7

Die heikle Frage nach dem Verhältnis von Opfer und Täter in jedem Land sollte uns hellhörig machen und motivieren, einander besser kennen zu lernen und das Schreiben der Geschichte Europas anzugehen. Dieser Gedanke inspirierte ein Projekt, das wir an der Viadrina durchgeführt haben. Mein Kollege Karl Schlögel hat das als eine substantielle Herausforderung angesehen, die ganz schwer einzulösen ist, denn die europäischen Nationalgeschichten greifen ineinander, gehen auf gemeinsam erlebte, aber verschieden wahrgenommene Konflikte und Kriege zurück. Wir müssen uns an dem Machbaren orientieren, denn im umfassenden Sinne werden wir den historiographischen Anspruch nicht einlösen können. Was sollte europäische Geschichte in mythologischer Hinsicht sein? Ich kann Ihnen, offen gesagt, keine Antwort geben, obwohl ich die Notwendigkeit, europäische Geschichte zu schreiben, für geboten halte.

Marc Nouschi:
Michel, Du arbeitest als Konservator und Direktor eines Museums, wo sich die kultivierende Kultur und die Freizeitkultur treffen. Könntest Du uns Deine Gedanken zu diesem Thema mitteilen?

Michel Colardelle:
Was die Freizeitkultur anbelangt, so ist sie schwer zu fassen. Ich würde Freizeit als eine moderne Form der Kultur bezeichnen. Eine moderne Form der Kultur, die wesentlich länger existiert als die Vereinigten Staaten. Sie zeigt sich bei Zeremonien, Ritualen und besitzt zugleich einen ausgeprägten Vergnügungscharakter, ohne diese Teile wertend gegenüberzustellen. Ein Museum ist, wenn man so will, ein Freizeitort. Es ist vor allem ein Ort der Neugier des Fragen-Stellens, der Diskussion und des Lernens. Ein Museum ist eigentlich mehr als ein Erholungsort im eigentlichen Sinn des Wortes.

Abbildung 7:

Utopische Karte des befriedeten Europa, Paris 1867

 

 

 

 

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 22

Zwei Punkte würde ich noch ansprechen wollen. Die Opposition von Ökonomie und Kultur halte ich für wenig sinnvoll. Auch glaube ich nicht, dass Monnet diesen Satz gesagt hat. Sollte er ihn tatsächlich gesagt haben, so halte ich dieses Primat der Kultur für unrealistisch, selbst wenn wir soziologische oder philosophische Erklärungsmuster bemühen. Einer der Werte der europäischen Kultur ist die Demokratie. Jedermann weiß, dass die Demokratie nur existieren kann, wenn ein ausreichendes wirtschaftliches Gleichgewicht gegeben ist. Dieses stellt die Grundlage für Gleichberechtigung und Gleichheit in der demokratischen Gesellschaft dar. Das heißt, wir kommen von der Kultur unweigerlich wieder zur Ökonomie. Was macht Ökonomie aus? Sie bestimmt die Modalitäten des Austausches von Ideen und Gütern, der konkret oder symbolisch sein kann, aber stets auf kulturelle Konventionen angewiesen ist. Ich habe meine Probleme, wenn wir Ökonomie und Kultur in Opposition stellen, wobei deren Abhängigkeit voneinander unübersehbar, ja essentiell notwendig ist. Es würde zu lange dauern, um hier auf die Einzelheiten einzugehen.

Anders verhält es sich bei der Gegenüberstellung von den Vereinigten Staaten und Europa. Diese Differenz geht viel weiter zurück, als wir meinen. Wir sollten uns die konkreten Umstände anschauen und nicht nachsinnen, was Monnet angeblich gesagt hat. Bei der Gegenüberstellung von Europa und den Vereinigten Staaten gerät die Volkskultur häufig aus dem Blick. In der Betrachtung von Freizeitkultur und ernster Kultur können wir uns der amerikanischen und europäischen Geschichte nähern und sie als unterscheidbar wahrnehmen. Die europäischen Kulturen sind wesentlich stärker Elitekulturen als die US-amerikanische. Die USA sind ein Land mit sehr kurzer Geschichte, das wesentlich mehr auf die Zukunft orientiert ist, wodurch das kollektive Gedächtnis im Vergleich mit Europa einen geringeren Stellenwert besitzt. Die Franzosen nennen das Überlegen auch Gedächtnisarbeit. Auf diesem nicht einfachen Terrain geschieht viel zwischen Deutschland und Polen, aber auch zwischen Polen und der Ukraine. Mir scheint, dass zwischen diesen Ländern an einem konsensualen Umgang mit den schwierigen Seiten des Gedächtnisses und der Geschichte gearbeitet wird, obwohl sich verschiedene Wahrnehmungen und Interpretationen nicht gänzlich einebnen lassen.

Abbildung 8:

Eine Dame namens Europa
Der Kommentar der drei Herren: "Enormes Weib, aber sündhaft teuer"

 

 

 

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 23 

Gesine Schwan:
Ich möchte folgende Frage stellen: Meinen Sie, dass es einen Unterschied zwischen nationalen Entwicklungen im Hinblick auf gemeinsame Grundlagen und feindlich gegenüberstehende Kulturen gibt? Wenn wir von Polens kultureller Identität und seinem kollektiven Gedächtnis sprechen, dann meinen wir ein rein christliches Gedächtnis, ohne slawischen oder jüdischen Einfluss. Glauben Sie, dass es sich um ein spezifisch polnisches Gedächtnis handelt, das sich erheblich von anderen europäischen Ländern, zum Beispiel Deutschland abhebt?

Aleksander Smolar:
Diese Frage würde ich ausdrücklich bejahen. Polen war sehr lange abgeschottet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist es mit Gewalt zu einem ethnisch weitgehend homogenen Staat geworden. Das heißt, der Blick auf Polens Geschichte ist zuerst ein politischer. In der vorangegangenen Diskussion war von der 750-Jahrfeier Posens die Rede. Zwei Teilnehmer hatten festgestellt, dass der Einfluss der deutschen Kultur bei den Feierlichkeiten nicht berücksichtigt worden war, obgleich es mittlerweile einen zunehmend ausgewogeneren Umgang mit dem deutschen Erbe in Polen gibt. In Breslau und in anderen Städten trifft man diese historisch defensiven Haltungen immer seltener. Ähnliches lässt sich auch für die Ukraine feststellen. Über die lange verschwiegenen Kapitel der polnisch-ukrainischen Geschichte die beiderseits verübten Verbrechen im Zuge ethnischer Säuberungen spricht man wieder. Das gilt auch für die jüdische Geschichte in Polen. Seit vielen Jahren stelle ich fest, dass es in Frankreich nichts Vergleichbares gibt. Wir brauchen uns nur vergewissern, wie lange und mit welchen Tabus der Umgang mit dem Erbe des Vichy-Regimes behaftet war. Bei allem Bekenntnis zur offenen, demokratischen Gesellschaft gibt es in den europäischen Ländern nach wie vor eine unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft, die dunklen Kapiteln der eigenen Nationalgeschichte zu beleuchten.

Michel Colardelle:
Wir sollten uns vor der Manipulation des Gedächtnisses hüten. Immer wieder werden einzelne Ereignisse benutzt, um einige Fragmente unseres Gedächtnisses wach zu halten, andere hingegen zu verdrängen. Dabei gelangen wir in eine Art virtueller Realität, die fiktive Elemente enthält und aus bestimmten Teilen der Geschichte zusammengesetzt ist.

Abbildung 9:

"All Our Colours to the Mast"
Poster des holländischen Künstlers Rejin Dirksen. Das Poster wurde im Rahmen eines Wettbewerbs der U.S. Economic Cooperation Association in Europe zum Thema IntraEuropean Cooperation for a Better Standard of Living mit dem ersten Preis ausgezeichnet

 

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 23. Internet-Quelle [4]

Marc Nouschi:
Inwieweit war Kultur ein integrativer Faktor zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union und denjenigen, die noch vor den Toren Europas stehen? War oder ist Kultur vielleicht ein ausschließender Faktor? Wer von Euch möchte antworten? Aleksander vielleicht?

Aleksander Smolar:
Ich denke, dass beides zutrifft. Kultur war sowohl ein integrativer als auch ein ausschließender Faktor. Wir werden ideengeschichtlich seit Montesquieu Menschen finden, die versucht haben sich dieses Gedankens zu bemächtigen und eine Definition zu geben, die für den integrativen Faktor spricht. Der Humanismus in Deutschland und die Ideen von Freiheit und Demokratie zum Beispiel, aber auch das Konzept der Solidarität und die Fähigkeit des konstruktiven Zweifels sind wichtige Faktoren, die die europäische Kultur geprägt haben.

Es gibt natürlich auch Beispiele, wo europäische Traditionen negativ besetzt sind. Der Totalitarismus oder Verbrechen, die im Namen einer kulturellen Diskriminierung und nationalen Ausgrenzung begangen wurden, haben Europa im 20. Jahrhundert verändert. Andere Elemente der europäischen Kultur, wie Prosperität und Toleranz vermochten die verheerende Wirkung der Nationalismen entschärfen. Ich denke an das besondere, weil ausgesöhnte Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland. Was wir in diesem Jahr anlässlich des 40. Jahrestages des Elysée-Vertrages und der gemeinsam verabschiedeten Deklaration erlebt haben, gibt mir jedoch Anlass zur Sorge. Veröffentlicht im Namen Europas, suggeriert die Deklaration, dass es eine Daseinsberechtigung für den französischen Motor gebe, wodurch sich etwa Italien und Spanien, die seit langem der Union angehören, marginalisiert fühlen könnten. Aus polnischer Sicht ist dies noch weniger verständlich, denn die westeuropäische Nachkriegsgeschichte ist von den Polen jenseits des Eisernen Vorhanges ausschnitthaft und zugleich mit mancherlei Sehnsucht wahrgenommen worden.

Hier sind wir unweigerlich bei der Frage nach der europäischen Identität. Kann es sie überhaupt geben? Wie sollten wir sie verstehen? Eine Identität, die versucht zu integrieren und dabei widersprüchliche Elemente vereint. Es ist schwer zu sagen, wo die integrative Funktion anfängt und wo sie aufhört. Gegenwärtig ist ein Prozess im Gange, den auch ich wie jeder andere beeinflussen kann, indem ich als Identitätsstifter ein Beispiel gebe und meine Erinnerung selbstkritisch befrage. Eine europäische Identität muss offen genug sein, um andere Menschen zu respektieren. Sobald sich Homogenität einstellt und das Gefühl aufkommt, die Identität sei ein geschlossenes Konstrukt, würde es schwer werden, Verständnis füreinander zu schaffen, schlimmer noch, Konflikte wären vorprogrammiert.

Europa stand 40 Jahre für Demokratie aber auch für Totalitarismus. Wenn wir heute von Europa sprechen, dann häufig als ein Synonym für die offene Gesellschaft. Die europäische Geschichte ist voll von Kriegen und Konflikten. Die unbefangene Betrachtung dieser Geschichte seit 1989, hilft ein europäisches Gleichgewicht zwischen den einst Fremden im Osten und den Einheimischen im Westen auszutarieren.

Abbildung 10:

Die europäische Zusammenarbeit
(Plakat 1990, Deutsches Historisches Museum)

 

 

 

 

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 29

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Über das Vichy-Regime wurde in den letzten Jahren einiges im französischen Fernsehen berichtet. In diesen Beiträgen erhielten Kummer und Mitleid einen breiten Raum. Wenn hingegen vom Nationalsozialismus in Deutschland die Rede war, dann wurden andere Begriffe benutzt - Mitleid und Kummer hatten hier keinen Platz. Auch der wahrhaftige Umgang gehört zur Kultur. Wir haben gesehen, dass ein Teil der Franzosen, personifiziert durch Pétain, sich wohlwollend gegenüber dem "Dritten Reich" verhielt, ein anderer Teil sich um den Fortbestand Frankreichs mühte. Diese Ambivalenz gilt für alle Länder, ganz gleich ob es sich um Deutschland oder Polen handelt. Wichtig ist, eine integrative Definition zu finden, die eine derartige Ambivalenz und Spannung aushält.

Bei einer Definition europäischer Identität würde ich die Toleranz, die offene, vorurteilsfreie Haltung gegenüber dem Anderen an erster Stelle nennen. Das beginnt mit meiner Person, der Zivilisation, der Kultur aber auch damit, dass ich mir selbst darüber im klaren bin, den Anderen anzuerkennen, ja mehr noch, diesen Schritt als Bereicherung zu empfinden. Die integrative Kraft der Kultur bewährt sich zudem im freien und verantwortungsvollen Austausch von Geld und Produktionsmitteln. Bei einer weiten Kulturdefinition stoßen wir zwangsläufig auf die Religion als Integrationsfaktor von hohem Rang.

Neben diesen prägenden Faktoren gibt es andere kulturelle Einflüsse wie den Schamanismus und Aberglauben, mit einer zum Teil tiefen Verwurzelung bei den Menschen im Mittelmeerraum. Wie eigentümlich Kooperation verlaufen kann, davon zeugen Gallier und Römer, ein sehr merkwürdiges Paar. Wenn wir uns nicht versöhnt hätten, dann wäre die französischen Nation wohl auf anderen Pfaden entstanden. Auch zwischen Kelten und Römern, die lange Zeit Gegner waren, gab es durchaus ein Miteinander, wie uns die archäologischen Spuren beweisen. Das kulturelle Modell römischer Prägung hat sich gegenüber dem keltischen durchgesetzt, was nicht bedeuten muss, dass die Kelten den Römern feindselig gesinnt waren.

Abbildung 11:

Das deutsch-französische Verhältnis: Das Bild des Anderen im Wandel der Zeit.

 

 

 

 

Internet-Quelle [5]

Ein jüngstes Beispiel möchte ich nicht schuldig bleiben. Die Jugendlichen mit ihrer Musik und dem Graffiti sind ein Beweis, wie moderne Kulturphänomene sich weltweit ausbreiten, von den Vereinigten Staaten bis weit in den Osten Europas. Ich denke, wir können wirklich feststellen, dass Kultur ein eminent wichtiger integrativer Faktor ist. Natürlich sollten wir die Integration nicht als Ideologie, sondern als Prozess verstehen.

Der Blick in die Geschichte hilft weder, um Kultur zu definieren, noch um das gegenwärtige Tun an früheren Handlungsmustern auszurichten. Wir müssen die gelebte Kultur wahrnehmen, um sie als integrativen Faktor innerhalb Europas nutzen zu können, und zu dem zu gelangen, was wir Toleranz und Integration nennen. Wir haben alle die wunderbaren Momente im Revolutionsjahr 1989 erlebt. Können wir uns den europäischen Integrationsprozess ohne einen Gegenpol vorstellen, ohne die Barbaren um die Beschreibungen der Griechen und Römer aufzugreifen oder müssten wir sie, so die provokante These, erfinden? Das ist eine Schlüsselfrage für das künftige Europa.

Verführerisch ist es, Integration mit Blick auf einen Gegner zu betreiben und den Hass als Mittel zum Zweck einzusetzen. Es ist stets leichter negativ, als positiv zu argumentieren. Die Suche nach Gemeinsamkeiten ist häufig mühsam. Andererseits dürfen wir die europäische Integration nicht auf den Faktor der Feindseligkeit reduzieren. Dem widerspricht der freiwillige Austausch von Waren und Ideen, die gewachsenen freundschaftlichen Bande zwischen einzelnen Ländern in Europa. Die europäische Sache gibt sicher Anlass realistisch, nicht aber allzu pessimistisch zu sein.

Mit Blick in die Zukunft sind wir an einer entscheidenden Wegmarke angekommen. Einerseits stehen wir vor einem Europa, das Gefahr läuft, wieder in Nationen gespalten zu werden, wo jedes europäische Land seine Position zu den Vereinigten Staaten bestimmt. Andererseits stehen wir vor einem Europa, das sich der Welt als ein politisch gemeinschaftliches Gebilde darstellt, das seine wichtige Rolle in der Welt wahrnimmt. Letzterer Weg lässt sich nur mit einer vorurteilsfreien Zusammenarbeit beschreiten.

Abbildung 12:

Ein neues Verständnis von Europa? 

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 30-31

Kann ein derart großes Projekt gelingen und identitätsstiftend sein? Wir sprachen bereits von der Toleranz, den Anderen nicht nur zu akzeptieren, sondern ihn anzuerkennen und in seiner Würde zu respektieren. Dies ist der elementare Gedanke des Integrationsanliegens. Bei allem Integrationswillen sollten wir die kulturelle Andersartigkeit der USA nicht verkennen, wenn wir nach Westen blicken. Die Vereinigten Staaten waren und sind nicht gezwungen, derart viele sprachliche und kulturelle Rücksichten zu nehmen. Trotz der großen Zahl lateinamerikanischer Einwanderer haben sie nicht das Problem der sprachlichen Multikulturalität wie wir Europäer. Die Neigung zur kulturellen Assimilation verheißt in den USA nach wie vor Erfolg und Glück. Zwischen New York und San Francisco ist die Sensibilität gegenüber anderen Kulturen daher weniger stark als in Europa ausgeprägt. Ohne damit ein antiamerikanisches Vorurteil bedienen zu wollen, begreife ich diese Differenz durchaus als Gewinn und Chance für den alten Kontinent.

Was die Schaffung des kulturellen Ichs und der kulturellen Gemeinschaft anbelangt, sind Unterscheidungen geboten. Ich zweifele, dass wir ein Gesellschaftsmodell entwerfen können, das sich auf die Vergangenheit gründet. Wir können natürlich davon ausgehen, dass vieles leichter ginge, wenn wir in der Vergangenheit nach vermeintlich nützlichen Analogien suchten. Die historische Analogie zur Grundlage heutiger Entscheidungen zu machen, garantiert noch keinen Erfolg. Im Gegenteil, der Rückgriff auf die Vergangenheit birgt das Risiko der Verklärung und falschen Schlussfolgerung.

Der gegenwärtige Konflikt zwischen dem kontinentalen Europa und dem transatlantischen Partner ist ein neuartiger und ein problematischer angesichts der zivilisatorischen Herausforderungen in der Welt. Es geht darum, zu überlegen, ob wieder zwei künstlich geschaffene Blöcke, ein jüdisch-christlicher und ein europäischer entstehen. Dabei sind die unterschiedlichen Wertvorstellungen, worüber die Intellektuellen beider Seiten diskutieren, nicht zu leugnen. Der Judaismus und der Islam haben ebenfalls divergierende Wertvorstellungen. Der kulturelle Relativismus und die Toleranz, von der wir sprachen, ist dort eine sehr zweischneidige Sache, wo wir den Anderen als gleichberechtigt zu respektieren haben.

Ich möchte Ihnen ein zugegebenermaßen ungewöhnliches Beispiel geben. Sexuelle Verstümmelungen, die an jungen Mädchen vorgenommen werden, sind in hohem Maße (missbräuchlich) religiös motiviert. Was hat das mit Religion zu tun, ist die naheliegende Frage. Ich muss überlegen, ob ich hier eine religiöse Begründung hinnehmen kann. Ferner ist zu fragen: Kann ich das woanders akzeptieren und kann ich das in meinem Land akzeptieren? Sie sehen, es ist ein schwieriger Schritt zwischen dem Verstehen, Anerkennen und Respektieren. Diese Schritte sind in der Tat nicht einfach. Ich kann auch keine Lösung anbieten. Vielleicht sollten wir einen Moment inne halten und nachdenken, bevor wir handeln.

Abbildung 13:

Europa - eine neue kulturelle Dimension

 

 

 

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 35 

Michel Colardelle:
Wenn wir an den Zusammenstoß der Zivilisationen denken, wie ihn Samuel Huntington formuliert hat, sehen wir Europa dann in kultureller Hinsicht als ein eingemauertes Europa oder im Stile Andalusiens.

Es wäre wünschenswert, Europa als ein Andalusien und nicht eingemauert zu sehen, was in einer Stadt wie Berlin ganz besonders gilt. Ein andalusisches Europa bietet uns mehr Chancen und Sicherheit, nicht nur gegenüber dem Islamismus und anderen Gefahren. Selbst in einer rein deutschen Gesellschaft wären die Unterschiede zwischen den verschiedenen Subkulturen nicht zu übersehen, als dass wir abseits stehen könnten.

Nun möchte ich auf die Ideen des Weimarer Dreiecks zu sprechen kommen. Ein Nachdenken über einen europäischen Weg könnte uns in Zukunft vor den Fehlern, die im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten gemacht worden sind, bewahren. Frankreich, Deutschland und Polen sind so unterschiedlich, dass sie aus ihrer Geschichte genügend Kreativität, Feinfühligkeit und Tatendrang schöpfen, um diese Fehler zu vermeiden. Die Konvergenz und die Überschneidung verschiedener kultureller Strömungen sind in der Regel ausgesprochen bereichernd. Was die Realisierbarkeit dieses Entwurfs betrifft, bin ich freilich etwas pessimistisch. Was auch an den Intellektuellen liegt, die selten den Mut haben, eine Position zu ergreifen, sich zu engagieren oder sich überhaupt zu äußern. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.

Befruchtend könnte ein anderer Blick auf die Vergangenheit sein, ein stärker analytischer, dekonstruierender Blick, der uns einen Wert wie Toleranz neu vergegenwärtigt. Das wäre notwendig, um die gegenwärtigen Ansätze der Soziologie, die uns Kulturen und deren Muster erschließen helfen, zu nutzen.

Das Prinzip der Laizität, wenn wir zwischen religiösem und kulturellem Wert abwägen, besagt, dass die Religion Teil unserer Kultur ist. Von einer gemeinsamen religiösen Identität zu sprechen, ginge jedoch zu weit. Anders verhält es mit dem Gefühl einer gemeinsamen kulturellen Zugehörigkeit. Man kann jung oder alt sein, Franzose oder Deutscher, man kann sich als Intellektueller oder Arbeiter fühlen, man kann eine Religion besitzen oder nicht. Kurzum, uns steht ein regelrechtes Menü aus verschiedenen kulturellen Werten und Optionen offen. Diese Vielfalt sollten wir als ein Modell wahrnehmen, das Generosität einschließt. Europa steht politisch seit 1989 - trotz der Verbrechen in Ex-Jugoslawien - für Zivilisiertheit und Großzügigkeit, die es zu bewahren gilt.

Bei aller Attraktivität sollten wir es nicht als ein Modell von universellem Wert verkünden. Ich bin grundsätzlich gegen die ewige ideologische Lektion, die Europa anderen bisweilen zu geben pflegt. Wir sollten vielmehr etwas Flexibleres, Offeneres vorschlagen können, das wir alle teilen, das uns mobilisiert, das vor allem die jungen Menschen animiert, die sich mit politischen Projekten kaum zu identifizieren vermögen. Ich halte es jedoch für müßig, nachzusinnen, wie wir die Jugendlichen an die Wahlurnen bringen. Die Jugendlichen werden wählen, wenn sie sich für oder gegen etwas entschieden haben, für etwas, von dem sie träumen können. Ist die Welt, die wir ihnen vorschlagen, nicht jene, die sie sich vorgestellt haben, dann gehen sie auch nicht zu den Wahlurnen.

Ein Teil des bereits Realität gewordenen Traumes sind die durchlässigen Grenzen in der Europäischen Union. Jedoch um den Preis des Sich-Abschließens nach außen. Ganz gleich welches Gesicht wir einer Grenze geben, wir sollten die Möglichkeiten der Öffnung anstreben, Varianten des flexiblen Reagierens einräumen, damit drin sein nicht bedeuten muss, partiell noch draußen zu sein.

Abbildung 14:

Die Deutsch-polnische Annäherung ist ein wichtiger Schritt im Integrationsprozess Europas

 

 

Quelle: Dialog, Deutsch-polnisches Magazin Nr. 65, 2003/2004, S. 52

Eine andere Seite des Traumes ist der Toleranzgedanke. Die Toleranz gegenüber fremd empfundenen Verhaltensweisen wird abnehmen, falls es keine Gegenreaktion durch die demokratischen Kräfte gibt. Dann würden wir mit einem immer stärkeren Populismus konfrontiert werden. Dabei steht nichts geringeres auf dem Spiel als die offene demokratische Gesellschaft. Der ehemalige belgische Ministerpräsident Tindemans benannte das Problem auf seine Weise: "Wir haben verhandelt und dabei vieles beschlossen, nur eines haben wir nicht: Eine schlüssige Antwort gefunden, warum wir uns vereinigen wollen." Der ehemalige Kommissionschef Jacques Delors hat Europa wie folgt charakterisiert: "Ein Europa, in dem es keine Projekte mit einem gemeinsamen Wertekanon gibt, wird sich nicht zusammenschließen und kann kein konsistentes Europa sein." Der angstbesetzte und missgünstige Blick auf den Anderen ist unser Wegbegleiter und charakterisiert die Zweideutigkeit und Skepsis, die uns inne wohnt.

Wenn man von Erweiterung spricht, dann vor allem von der zivilisierten Erweiterung. Es gibt aber auch eine andere Erweiterung, die der Protektorate und der imperialen Art und Weise. Auf dem Balkan, in Mazedonien und Bosnien bekamen wir einen Eindruck von dieser aggressiven Seite Europas. Zynisch könnten wir die ethnischen Säuberungen als imperiale europäische Erweiterung bezeichnen. Realistischerweise ist nicht auszuschließen, dass auch zukünftig die imperiale Seite ihren Platz in Europa finden wird. Um diese Gefahr zu minimieren, ist die Verteidigung der ureigenen europäischen Werte sowie die zivilgesellschaftliche Stabilisierung Europas in Form der Erweiterung unerlässlich.

Marc Nouschi:
Erlauben Sie mir zum Abschluss noch eine Bemerkung zum Verhältnis Wirtschaft und Kultur in Europa, da sind wir in der Runde vermutlich einer Meinung. Die Wirtschaft ist zweifellos ein wichtiger Katalysator für den europäischen Einigungsprozess gewesen. Bei all ihrer Bedeutung habe ich jedoch Probleme mit der Vorstellung, dass der kulturelle Gedanke außen vor bliebe oder als nachrangig betrachtet werden würde. Die Wirtschaft ist tendenziell eine Sphäre, die keine andere neben sich akzeptiert, die von moralischen Prämissen lebt, die sie selbst nicht hervorbringt. Anders verhält es sich bei der Kultur, die auf der Andersartigkeit von Erinnerungen und Identitäten fußt, zugleich gemeinsame Wert- und Ordnungsvorstellungen zu stiften vermag und unverzichtbare Impulse für eine europäische Verfassung und ein Zusammenleben gibt.

Vielen Dank für das Gespräch.