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'Beabsichtigte Wahrnehmungsverzerrung'
 
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Beabsichtigte Wahrnehmungsverzerrung

Der marktstrategische Einsatz von Nationalstereotypen scheint im Vergleich eher harmlos. Das Tacitus-Syndrom ist aus der Literatur von Madame de Staëls [1]  Deutschlandbuch [2]  bis zu Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" bekannt. Je nach identitärem Bedürfnis wird die fremdnationale Kultur entweder idealisiert oder abgewertet, wobei in der Regel die Geschichte die Rolle der Schlagwortgeberin spielt. Neben der nationalpädagogischen Instrumentalisierung der Vergangenheit gibt es die publizistische Indienstnahme von Stereotypen zu Zwecken der Absatzsteigerung kultureller Produkte.

Ein anschauliches Beispiel für eine marktgerechte Wahrnehmungsverengung bietet ein Ausstellung, die 1994 in der Villa Hügel in Essen zu sehen war und das Frankreich der "Belle Epoque [3] " präsentierte. Anders als bei der bewusst kritisch-differenziert angelegten Ausstellung über 50 Jahre Nachkriegszeit "Vis-à-vis: Deutschland-Frankreich [4] ", die 1998 erst im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und danach im Maison de Radio France in Paris gezeigt wurde, (15) erhoben die Essener Ausstellungsmacher den Anspruch, die französische Kultur des Fin de siècle [5]  und der Vorkriegszeit mit dem ästhetisch-nostalgischen Kürzel "Belle Epoque" auszuweisen. Dabei wurden alle politischen wie sozialen Widersprüche und Erschütterungen sorgfältig ausgespart. Beabsichtigt war offenbar nicht eine sozial- und kulturhistorisch umfassende Präsentation der Epoche, sondern die Inszenierung eines Boulevardstücks, das eine Reihe deutscher Frankreichklischees befriedigte, als da sind Leichtlebigkeit, erotisches Flair, Eleganz, Lebenskunst - kurz, das was Götze als das "Olà,là - Frankreichbild" ironisiert. (16) Nicht falsche Wahrnehmung lag dem Ausstellungskonzept zugrunde, sondern eine bewusst eingeschränkte: Paris wurde zum verkaufsträchtigen Markenartikel, "das Französische" zum Werbeschlager.

Abbildung 9:

Die Ausstellung Paris-Belle Epoque in der Villa Hügel in Essen (11. Juni – 13. November 1998) erhob den Anspruch, die französische Kultur des Fin de siècle und der Vorkriegszeit mit dem ästhetisch-nostalgischen Kürzel "Belle Epoque" auszuweisen. Dabei wurden alle politischen wie sozialen Widersprüche und Erschütterungen sorgfältig ausgespart.
(Vgl. Text)

 

 

Internet-Quelle (villahuegel.de)

Auch jenseits des Rheins gibt es diesen marktstrategischen Einsatz von Wahrnehmungs- stereotypen. "Das Thema Deutschland besitzt eine gewisse Zugkraft, die Verleger zur Hoffnung auf einen kommerziellen Erfolg solcher Bücher berechtigt", heißt es in der Studie einer Freiburger Forschungsgruppe um Joseph Jurt. (17) Die Verfasser stellen fest, dass der Themenkomplex Nationalsozialismus, Holocaust, 2.Weltkrieg noch immer dominiert. Weniger, so vermuten sie, weil den Autoren an einer reflektierten Auseinandersetzung liegt, als weil sie mithilfe aneinandergereihter Versatzstücke absatzfördernde Gruseleffekte erzeugen können. Auch das gelegentlich praktizierte Verfahren, die Texte mit deutschsprachigen Einsprengseln zu versehen, gibt zu denken, wenn ausgerechnet die Zeile "Deutschland über alles" gehäuft auftritt.

Abbildung 10:

Die 1915 von Emile Durkheim verfasste Broschüre "L’Allemagne au-dessus de tout" wurde 1991 im Verlag Armand Colin neu aufgelegt. Auf dem Umschlagtext wird betont, die Schrift enthülle "die Klarsichtigkeit" des Autors, der anhand von Quellen belege, "dass der Krieg und die von der deutschen Armee begangenen Gewalttätigkeiten seit Jahrzehnten vorauszusehen" gewesen seien.
(vgl. Text) 

Internet-Quelle [6]

Eine politische Absicht dürfte dahinterstehen, wenn 1991 eine Broschüre Emile Durkheims [7] aus dem Ersten Weltkrieg mit dem Titel "L´Allemagne au-dessus de tout [8] . La mentalité allemande et la guerre" wiederaufgelegt wird. Ein geschichtswissenschaftlicher Kommentar, der auf die besonderen Entstehungsbedingungen des Werkes aufmerksam machte, fehlt. Lediglich einige spärliche Angaben auf der Rückseite des Reprints geben Hinweise auf die Frage, warum der Verlag Armand Collin ihn neu herausbrachte. Der Essay Durkheims, heißt es dort, enthülle "die Klarsichtigkeit" des Autors, der anhand von Quellen belege, "dass der Krieg und die von der deutschen Armee begangenen Gewalttätigkeiten seit Jahrzehnten vorauszusehen" gewesen seien. "Une leçon d´analyse politique pour aujourd´hui", postuliert der Verlagstext.

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Anmerkungen

(15) Vgl. dazu den üppig illustrierten Katalog. Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Vis-à-vis: Deutschland-Frankreich, Bonn 1998.

(16) K.H. Götze, Französische Affären, Frankfurt 1993, S. 60.

(17) J. Jurt, Deutsch-französische Fremd- und Selbstbilder in der Literatur und Publizistik der Gegenwart, in: Frankreich-Jahrbuch 1995, S. 57 f.