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'Mit der Fünften Republik ändern sich die Leitlinien'
 
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Mit der Fünften Republik ändern sich die Leitlinien

Die Ostdeutschen beurteilen die Politik des französischen Präsidenten zwiespältig. Einerseits beruhigt sein Machtantritt, da man sich an seine Stellungnahme gegen die EVG, seinen Nationalismus und an sein Unabhängigkeitsstreben erinnert, andererseits wird man während seiner Gespräche mit Chruschtschow sehr schnell gewahr, dass die Übereinstimmungen nur zwei Punkte betreffen: die Achtung der Ostgrenzen, insbesondere der Oder-Neiße Grenze, sowie das Verbot der atomaren Rüstung für Westdeutschland. Der General lehnt zugleich kategorisch die Anerkennung der DDR ab und widersetzt sich dem Bestreben, die Verkehrswege zwischen Westberlin und dem Rest Deutschlands der Kontrolle der DDR auszuliefern sowie Berlin in eine freie Stadt zu verwandeln. Die Wiedervereinigung im Rahmen eines Europa vom Atlantik bis zum Ural erscheint de Gaulle nur in ferner Zukunft realisierbar.

Im Jahr 1945 wird Deutschland in die Grenzen von 1937 zurückgeführt. Die neue deutsch-polnische Grenze verläuft entlang der Oder-Neiße-Linie, damit Polen den Verlust der Gebiete kompensieren kann, welche die UdSSR 1945 im Osten "wiedererlangt" hat.

 


Quelle: crdp.ac-reims.fr/memoire/bac/2gm/etudes/06carteeurope45.htm

Die Situation verändert sich ab 1964, als Paris von den USA Abstand nimmt und de Gaulle vom Teilerfolg des Elysée-Vertrages enttäuscht wird. De Gaulle erneuert die Beziehungen zu Moskau. Im Februar 1964 reist eine französische Parlamentariergruppe der gaullistischen Regierungspartei UNR nach Ostberlin - zu einem besonders unpassenden Augenblick, weil diese Reise am Vorabend des Besuches des deutschen Bundeskanzlers Erhard in Paris stattfindet. Die Welt entrüstet sich; ihr Korrespondent in Paris hat Schwierigkeiten, die offizielle Version der Gaullisten zu glauben, die Reise der Parlamentarier hätte ohne Wissen ihres Generalsekretärs stattgefunden. (23) Dieser Aufenthalt fällt zudem mit der Anerkennung der Volksrepublik China zusammen, und man kann sich fragen, ob de Gaulle auch eine Anerkennung der DDR ins Auge gefasst hat. Pankow freut sich: für die französischen Parlamentarier existiere die DDR demnach. 

Und daher übergeht Walter Ulbricht [1]  Frankreich bei seinen Verbalattacken gegen den Westen. Die Reise von Außenminister Maurice Couve de Murville [2]  nach Moskau wird hoch geschätzt, und der DDR-Durchschnittsbürger konstatiere – so Neues Deutschland - , dass General de Gaulle in der UdSSR jedesmal so handele, wie man es von ihm erwarte. Die Moskaureise de Gaulles im Juni 1966 lässt an eine Wende in den Beziehungen glauben. In der BRD gibt es starke Befürchtungen, da Frankreich soeben aus der NATO ausgeschieden ist. Doch jeder beharrt auf seiner Position: Breschnew fordert immerwährend die Anerkennung der DDR als Vorbedingung jeder Änderung des Status quo, während de Gaulle seiner Position treu bleibt, wenn er für die Wiedervereinigung plädiert und die DDR offiziell nicht anerkennt. Ulbricht kann somit erneut den zweideutigen Charakter der gaullistischen Politik anklagen.

Am 19. Januar 1967 bekräftigt Couve de Murville im Sender Europe 1 die Verweigerung der Anerkennung der DDR. Für Frankreich, das Beziehungen mit der Bundesrepublik unterhält, "wäre es nicht normal, gleichzeitig Beziehungen mit dem anderen Deutschland zu etablieren, mit der Regierung, die man Regierung der DDR nennt." (24) Frankreich bleibt also vorrangig seinem Bündnis mit der BRD und der Hallstein-Doktrin [3]  treu.

Walter Ulbricht (rechts), neben Nikita Chruschtschow bei dessen Besuch 1960 in Berlin, ist einer der Architekten der DDR. Er möchte aus ihr ein sozialistisches Musterland machen und brüstet sich, ihren wirtschaftlichen Aufschwung eingeleitet zu haben. Den Arbeiteraufstand im Juni 1953 lässt er gnadenlos niederschlagen. Am 12. August 1961 gibt Ulbricht den Befehl zum Bau der Berliner Mauer, die den Verkehr zwischen West- und Ostberlin komplett zum Erliegen bringt.

Quelle: www.sciences-sociales.ens.fr/hss2002/societe-pouvoir/acteurs/dir-RDA.html

Dennoch gibt es zahlreiche Franzosen, die breitere Kontakte mit dem anderen Deutschland wünschen, vor allem Wirtschaft und Handel sind an diesem Markt interessiert. Walter Ulbricht zieht nach dem Scheitern der überzogenen Kollektivierung der Landwirtschaft und des Siebenjahrplans, der 1958 verabschiedet worden war, den Ausbau soliderer Handelsbeziehungen mit den westlichen Ländern in Betracht. Diese Handelsbeziehungen zwischen dem Westen und der DDR sind jedoch nicht von großem Ausmaß, was deutlich wird, wenn man sie insbesondere mit dem Interzonenhandel vergleicht (25). 

Frankreich ist das Land, das im Januar 1959 mit 351 Exponaten auf der Leipziger Messe am stärksten präsent ist. Die Ostdeutschen kaufen vor allem Ausrüstungsgüter, Werkzeugmaschinen, Artikel der Elektro- und chemischen Industrie sowie Agrarprodukte. 1964 erhält die Gruppe Schneider den größten Auftrag über Ausrüstungsgegenstände, den die DDR an den Westen vergibt (26), im Jahr darauf folgen Aufträge an die Renault-Werke und an die Cifal, ebenfalls für umfangreiche Ausrüstungen. Die DDR, die vollständige Werkausstattungen benötigt, verkauft im Gegenzug Werkzeugmaschinen, polygraphische Maschinen, Büromaschinen, feinmechanische und optische Geräte (VEB Zeiss Jena), Textilwaren und Produkte der chemischen Industrie an Frankreich. Trotz fehlender Abkommen ist die DDR in den 60er Jahren für Frankreich nach der UdSSR der zweitwichtigste Abnehmer aus dem Kreis der sozialistischen Länder und nimmt als Lieferant den sechsten Platz ein. Infolge der Nichtanerkennung bleiben die ökonomischen Beziehungen dennoch begrenzt, d.h. unterhalb der Bedürfnisse und der Möglichkeiten beider Länder. Im Jahr 1965 wird hingegen eine Vereinbarung zwischen den Vertretern der Außenhandelskammer Ostdeutschlands und dem Leiter dei französischen Handelsabteilung in Deutschland unterzeichnet. Die Verhandlungen begünstigen "die Auflösung des Satellitenstatus" der DDR und erlauben ihr, wie de Gaulle 1965 unterstreicht, eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen.

Mehrfach drängt die ostdeutsche Führung auf eine Ausweitung des Handels und will ein längerfristiges Handelsabkommen und die Einrichtung einer französischen Handelsvertretung in der DDR erreichen. Französische Industrielle werden im selben Sinne tätig. Man wird in zwei Etappen erfolgreich: 1968 erhält die Vertretung der Außenhandelskammer der DDR, die seit 1955 in Frankreich eingerichtet ist, den Titel einer Vertretung des Amtes für Auswärtige Beziehungen der DDR, und im Juni 1970 wird in Berlin ein Büro der französischen Industrie- und Handelskammer eröffnet. Der Druck der französischen Wirtschaft ist also in den 60er Jahren durchaus effizient: drei Jahre vor der offiziellen Anerkennung der DDR wird mit diesem Büro in Ostberlin eine halboffizielle Vertretung eingerichtet, noch im gleichen Jahr wird ein Handelsabkommen für fünf Jahre abgeschlossen.

Bonn nimmt oft Anstoß an den französischen Erfolgen und befürchtet, Frankreich in bundesdeutschen Revieren "wildern" zu sehen. Doch hat die BRD keinen Grund zur Besorgnis; ungeachtet der überaus deutlichen Fortschritte machen die Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR kaum 10% des Gesamthandelsvolumens aus, das zwischen den beiden deutschen Ländern realisiert wird, und die DDR wird von den Europäern seit 1972 als "blinder Passagier" des Gemeinsamen Marktes angesehen (27). 

Der Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961. In Folge dieses Ereignisses "weigern sich die französischen Behörden unter Beachtung des entsprechenden NATO-Beschlusses, Ostdeutschen, die an internationalen Kolloquien oder Konferenzen teilnehmen möchten, Visa zu erteilen."

Quelle: pedagogie.ac-toulouse.fr/histgeo/bac/bac01/bac01-7.htm

Hingegen stagnieren in den 60er Jahren die kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR. Die 1958 gegründete Vereinigung "Échanges franco-allemands" (EFA) hat zum Ziel, die Zusammenarbeit mit den beiden deutschen Staaten zu entwickeln und die Anerkennung der DDR zu ermöglichen. Diese Organisation findet ab 1962 in der DDR mit der Freundschaftsgesellschaft DDR-Frankreich ihr Pendant. Professor Georges Castellan, einer der Begründer der EFA, verfolgt das Anliegen, die Beziehungen mit der DDR auf gleichem Niveau zu entwickeln wie diejenigen mit der Bundesrepublik. Die EFA ist sehr aktiv: Sie erleichtert Reisen von Lehrern, Gewerkschaftern und Sportlern und fördert Städtepartnerschaften. Um das andere Deutschland bekannt zu machen, organisiert die EFA Konferenzen und Ausstellungen über verschiedene Aspekte des Lebens in der DDR; in den Jahren 1964 bis 1974 finden insgesamt 195 solcher Veranstaltungen statt (28). Ihre Kulturkommission initiiert an der Sorbonne Vorträge über Brecht, über den deutschen Expressionismus und die Pariser Schule. 

Aber auch diese Vereinigung vermag schwerlich Bürger der DDR einzuladen, weil die Verantwortlichen in Frankreich seit der Errichtung der Mauer [4]  eine Visaerteilung für Ostdeutsche zur Teilnahme an internationalen Konferenzen oder Veranstaltungen gemäß der NATO-Bestimmungen ablehnen. Diese Maßnahme wird insbesondere gegen Künstler und Sportler angewandt (29) und erst im April 1964 für Privatreisende gelockert. Die Ostpolitik ermöglicht dann auch Franzosen, die DDR besser kennenzulernen. In der französischen Presse erscheinen mehr Artikel über die DDR, doch letzteres ist eigentlich nicht neu, denn seit der Gründung dieses Staates lässt sich das Interesse der französischen Presse für das andere Deutschland nicht leugnen.

1969 beendet der neue Kanzler Willy Brandt die äußerst rigide Politik seines Amtsvorgängers Konrad Adenauer gegenüber der DDR. Die von Brandt initiierte "Ostpolitik" leitet gegenüber den Ostblockstaaten eine Entspannung ein. Am 13. März 1970 (Foto) trifft er in Erfurt den Präsidenten des DDR-Ministerrates, Willy Stoph, ein historisches Ereignis in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten.

Quelle: www.guerrefroide.34sp.com/minidoc/ostpolitik

Auch einige Politiker sind Ende der 60er Jahre vom anderen Deutschland angezogen. Raymond Schmittlein, der die Bonner Öffnung nach Osten begrüßt, geht davon aus, dass Frankreich nicht fortfahren dürfe, "eine europäische Nation von solcher Bedeutung zu ignorieren"; Frankreich könne "Weimar, Potsdam, Leipzig, Dresden und Rostock aus seiner Wahrnehmung deutscher Wirklichkeit nicht aussparen" und die "kulturellen und ökonomischen Verbindungen mit dem Staat, der den Mut besaß, Preußen zu vernichten", nicht verkümmern lassen. Es sei an der Zeit, "mangels einer juristischen Anerkennung, die Beziehungen mit der DDR zu normalisieren und mit einer politischen Delegation auch kulturelle und Wirtschaftsmissionen nach Berlin und Potsdam zu entsenden." (30)

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Anmerkungen

(23) Die Welt, zitiert durch Le Monde, 15.02.1964
 
(24) Le Monde, 20.01.1067
 
(25) L’Économie, 12.03.1965, Artikel von Jacques Moreau. 
 
(26) Es handelt sich um die Lieferung der Anlagen für eine Stickstoffdüngemittelfabrik
 
(27) Le Monde, 24.01.1973. Am Ende eines Protokolls zu den Römischen Verträgen wurde – im Namen der deutschen Einheit – gestattet, dass die ostdeutschen Produkte in die BRD und über diesen Weg auch in die gesamte europäische Gemeinschaft gebührenfrei (rechtsfrei) eingeführt werden konnten.
 
(28) Vgl. Gilbert Badia: „Die kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Allemagne d’Aujourd’hui, Oktober-Dezember 1988. 
 
(29) Das Westberliner Travel Board (Passbehörde der Alliierten) regelt die Beziehungen zwischen den Westmächten und den Bürgern der DDR. Die Regelungen stehen in Zusammenhang mit den von der Ostberliner Regierung verfügten Reisebeschränkungen. Die Weigerung der DDR, die West- und Ostberliner von einem Sektor ihrer Stadt in den anderen fahren zu lassen, führt also zu repressiven Maßnahmen. Die Mitgliedsländer der NATO lehnen die Visaerteilung für DDR-Bürger ab, was deren Reisen ins Ausland verhindert. 
 
(30) Le Télégramme de Paris, 01.11.1969.