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'Die Fortdauer des "Kriegs in den Köpfen"'
 
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Die Fortdauer des "Kriegs in den Köpfen"

In der Tat wurde die Politik der Zwischenkriegszeit maßgeblich von dem Umstand bestimmt, dass "der Krieg in den Köpfen" (13) auch nach der Unterzeichnung der Pariser Vorortverträge unvermindert anhielt. Zum Teil war dies durch die Art, in der die Friedensverhandlungen auf allen Seiten geführt worden waren, vorprogrammiert worden. Der Leiter der deutschen Delegation in Versailles, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau [1] , hatte seine Verhandlungsstrategie von vornherein darauf angelegt, das Friedenswerk als solches moralisch zu diskreditieren, und deshalb - übrigens entgegen den Weisungen des Reichskabinetts - die Frage der Kriegsschuld in den Vordergrund seiner Verhandlungsstrategie gestellt mit dem Ziel, die Weltöffentlichkeit gegen den Vertrag zu mobilisieren. Bei Lage der Dinge war dies wenig aussichtsreich, obschon nicht wenige neutrale Länder über die Härte des Versailler Vertrages wenig glücklich waren (14).

Es steht dahin, ob eine nüchternere Strategie, welche die deutsche Öffentlichkeit nicht noch zusätzlich gegen das Vertragswerk eingenommen hätte, viel an der Lage geändert hätte (15). Auch die Alliierten, und namentlich die französische Regierung betrieben eine Emotionalisierung der ohnehin äußerst gespannten Verhandlungen in Versailles. Wenn die französische Regierung es so arrangierte, dass die deutsche Delegation auf ihrem Weg in die Verhandlungsräume mit einer Reihe von auf grässlichste Weise verunstalteten Kriegsbeschädigten, den »gueules cassées«, konfrontiert wurde, um den Deutschen ihre moralische Schuld handgreiflich vor Augen zu führen, so lässt sich ein massiverer Einsatz suggestiver, den Gegner moralisch diskreditierender Mittel wohl schwer vorstellen (16). Insofern kann es nicht überraschen, dass die hitzigen Auseinandersetzungen über den Frieden von Versailles sowie, in geringerem Maße, die anderen Pariser Vorortverträge [2]  auch nach deren Zustandekommen weiterhin anhielten, ja noch erheblich an Schärfe und emotionaler Tonlage zunahmen.

"Die großen Vier"! Am 18. Januar 1919 nahmen in Paris die Entente-Mächte sowie die ihnen assoziierten Staaten die Verhandlungen über einen Friedensvertrag auf; Sowjetrussland sowie die besiegten Staaten, d. h. auch das Deutsche Reich, blieben von den Verhandlungen ausgeschlossen. Bestimmt wurden die Verhandlungen vom "Rat der Vier" (den "Grossen Vier"): von Woodrow Wilson, dem Präsidenten der USA, David Lloyd George, Premierminister von Großbritannien, Georges Clemenceau, Premierminister von Frankreich, und von Vittorio Emanuele Orlando, dem Ministerpräsidenten von Italien.

Quelle: www.dsg.ch/vers1919.htm

Es waren nicht nur die wilhelminischen Machteliten, die den Kampf gegen Versailles zu einem Kernbestandteil ihrer politischen Zielsetzungen erhoben, sondern in gewissem Sinne war es auch die Linke, von der Sozialdemokratie bis hin zu den vielbeschworenen "Linken Leuten von Rechts", allen voran Karl Radek [3] . Sie stand dabei teilweise unter dem Einfluss der Politik der UdSSR und der Komintern [4] , ihres propagandistischen Arms im Ausland, welche sich ebenfalls dem Kampf gegen das System von Versailles verschrieben hatte und um Kooperation mit den Verlierermächten warb.

Jedoch wurde die Kampagne gegen Versailles in der Folge vor allem von den rechtsradikalen Verbänden und Parteien geführt, während die wilhelminischen Eliten in den Fragen der Friedensordnung Europas weit eher zu politischen Kompromissen mit den ehemaligen Siegermächten bereit waren, was sich beispielsweise an der nüchternen Realpolitik [5]  Gustav Stresemanns [6]  seit 1924 ablesen lässt. Die wilhelminischen Eliten, welche in den Institutionen der Gesellschaft, vor allem aber auf den öffentlichen Foren, nach wie vor den Ton angaben, verfolgten freilich weiterhin das Ziel des Wiederaufstiegs Deutschlands zu einer europäischen Großmacht unter Abschüttelung der Restriktionen des Versailler Vertrages. Sie wurden allerdings nunmehr ihrerseits von rechts her überholt; die Agitation gegen den angeblichen "Schmachfrieden" von Versailles, die sie ursprünglich initiiert und maßgeblich getragen hatten, kehrte sich jetzt gegen sie selbst.

Es war die sich ob des Vertrags von Versailles abzeichnende politische Destabilisierung in Deutschland, die vor allem in Großbritannien eine Politik der schrittweisen Revision des Vertrages und schließlich des "appeasement [7] " zum Zuge brachte. Diese setzte freilich zu zaghaft und viel zu spät ein, um den Zusammenbruch der Weimarer Republik noch abwenden zu können. Ihre Erfolge kamen dann gänzlich unverdienterweise Adolf Hitler zugute (17). Denn die Machtstellung der Staatsmänner, die, wenn auch unter großen Reserven und Widerständen, ihre Unterschrift unter das Vertragswerk von Versailles gesetzt hatten, gerieten nun unter den Druck der extrem rechtsgerichteten Parteien, welche sich mit zunehmendem Erfolg der Agitation gegen Versailles als der angeblichen Ursache allen Übels bedienten, um die demokratische Ordnung von Weimar auszuhebeln. Es hing mit der Schwächung der innenpolitischen Position der wilhelminischen Eliten zusammen, dass sie sich schließlich dazu bereit fanden, wenn es denn nicht anders ging, zum Zwecke ihrer Machterhaltung einen Pakt mit der nationalsozialistischen Bewegung zu schließen, nachdem es dieser gelungen war, in den breiten Massen der Bevölkerung wachsenden Anhang zu mobilisieren. Der Kampf gegen Versailles war das Kernstück der außenpolitischen Zielsetzungen der wilhelminischen Eliten; darin trafen sie sich mit Adolf Hitler; dieser aber verstand es, diese Bestrebungen zum Vehikel zu machen, um die Macht in Deutschland zu erlangen, obgleich seine eigenen, damals freilich nur teilweise offen deklarierten Zielsetzungen über die Beseitigung des "Diktats von Versailles" weit hinausgingen.

Während der Weimarer Republik haben sich die innenpolitischen Gewichte zunehmend zu Gunsten der extremistischen Parteien verschoben. Bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 erhielt die NSDAP über 37 Prozent aller Stimmen, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) kam auf über 14 Prozent. Die Wähler hatten den "bürgerlichen" Parteien und der parlamentarischen Demokratie auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise eine klare Absage erteilt. Die während der Revolution 1918/19 noch unüberhörbaren Stimmen der Vernunft aus dem demokratisch-pazifistischen Lager waren 1932/33 im Getöse der "Sieg-Heil"- und "Rot-Front"-Rufe untergegangen. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war das Ende der Weimarer Republik am 30. Januar 1933 besiegelt.

Quelle: www.dhm.de/lemo/html/weimar/

Man sollte dabei freilich nicht den Tatbestand aus dem Auge verlieren, dass dies erst zu einem Zeitpunkt geschah, an dem die mit den Pariser Vorortverträgen geschaffene politische Ordnung bereits an vielen Stellen Europas eingebrochen war. In Italien und Ungarn waren faschistische Regime zur Macht gelangt, in Spanien und Portugal waren autoritäre Herrschaftsordnungen entstanden, und auch die präsidialen Regierungen in Österreich und Polen hatten zunehmend diktatorische Züge angenommen. Das Werk der "Friedensmacher" von Paris lag weithin in Trümmern; Europa war weiter denn je zuvor von der Devise Woodrow Wilsons entfernt "to make the world safe for democracy". Selbst in den Vereinigten Staaten führte die negative Bilanz der Politik Woodrow Wilsons zu einer schweren Erschütterung des progressive liberalism (18).

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Anmerkungen

(13) Vgl. Gerd Krumeich, Versailles 1919. Der Krieg in den Köpfen, in: Ebenda, S. 53-64.

(14) Bezüglich des besonders interessanten Falls der Niederlande, die in der Tat von einer lang anhaltenden Schwächung der Wirtschaftskraft Deutschlands erhebliche Nachteile zu erwarten hatten, siehe Duco Hellema, Die Probleme eines ehemals neutralen Landes. Die Niederlande und der Versailler Vertrag, in: Ebenda, S. 225-233.

(15) Vgl. Klaus Schwabe, Friedensstrategie, S. 71 f. bzw. S. 85.

(16) Vgl. Stephane Audoin-Rouzeau, Die Delegation der "gueules cassees" in Versailles am 28.6. 1919, in: Ebenda, S. 280-287, hier S. 286 f.

(17) Vgl. Christoph Jahr, Der lange Weg nach München. Britische Außenpolitik unter dem Eindruck von Versailles, in: Ebenda, S. 113-125, hier S. 122 ff.

(18) Vgl. Matthias Waechter, Versailles und der amerikanische Liberalismus, in: Ebenda, S. 105-112, hier S. 108 ff.