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'Wahrnehmungen und Deutungen'
 
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Wahrnehmungen und Deutungen

Der Krieg war besonders in seiner ersten Phase sehr verlustreich. Den heutigen Beobachter erfüllen die Schlachtenszenarien mit Schrecken und Grauen und wecken (nicht zuletzt in Anbetracht der deutsch-französischen Aussöhnung) Zweifel an der Sinnhaftigkeit militärischer Konflikte. Solche Reaktionen sind aber historische Anachronismen, denn für die große Mehrheit der Zeitgenossen war der Krieg ein unvermeidbarer wenn nicht notwendiger Bestandteil der Welt. Kritik am Krieg formulierte nur eine kleine Minderheit. Eine Karikatur, wie sie das französische Satireblatt "Le Grelot" im August 1871 veröffentlichte, deckt die Mechanismen anachronistischen Urteilens auf. Sie spricht den heutigen Betrachter deshalb an, weil die "großen nationalen Fragen" der Zeitgenossen, die die beiden Kriegsversehrten mit Hinweis auf ihre Verstümmelung entzaubern, heute - nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen und vor dem Hintergrund der europäischen Einigung - nur noch als Konfliktpotentiale wahrgenommen werden.

    * Et bien mon pauvre Choucrouttmann ?
    * Eh bien mon pauvre Chauvin ?
    * C'est fini de jouer; tu as gagné un empereur, moi j'en ai perdu un.
    * Et ça ne nous rend pas la jambe mieux faite.

(Le Grelot, Nr. 18, 13. August 1871)

In zahlreichen Gemälden, Gedichten und Liedern wurden die blutigen Taten der Soldaten beschrieben. Zwar ist der Tod überall präsent. Es gibt fast kein Schlachtengemälde ohne Verwundete (Dok. 28 [1] ). Und selbst ein Gedicht wie "Ich hatte einen Kameraden" thematisiert ausdrücklich die rücksichtslose Willkür des Krieges. Aber dennoch bedeuteten diese Darstellungen für die Zeitgenossen keine Delegitimierung des Krieges. Während er den Deutschen die langersehnte Einheit gebracht hatte und darum als positives historisches Vorbild dienen konnte, war er den Franzosen ein Instrument für eine mögliche Revanche. Das wohl bekannteste literarische Produkt über den Krieg, der Roman "La Débâcle" von Emile Zola [2] , eines Autors der für seine Kritik am Militär berühmt wurde, beschreibt ohne Beschönigungen die grausame Realität der Kampfhandlungen und Verbandsplätze (Dok. 29 [3] ). Dennoch verstand Zola seinen Roman keineswegs als Plädoyer für den Pazifismus. Im Gegenteil, der Krieg war für ihn eine moralische Instanz (Dok. 30 [4] ). Hier traf sich der französische Antimilitarist mit dem preußischen Generalfeldmarschall Graf Moltke (Dok. 31 [5] ). Erst spät am Ende ihres Lebens warnten beide vor den Zerstörungen, die ein industrieller Massenkrieg mit sich bringen werde. Die Wahrnehmung des zeitgenössischen Kontextes, in dem Zola seinen Roman verfasste, macht deutlich, dass eine naturalistische Beschreibung der Grauen des Krieges allein noch kein Plädoyer gegen den Krieg ist, sondern ganz im Gegenteil Bestandteil einer rein militärischen oder patriotischen Überhöhung des Krieges sein kann. Diese Perspektive schärft auch den kritischen Blick auf moderne Kinofilme wie "Der Soldat James Ryan" oder "Black hawk down".

"Wie anno 70" (Postkarte 1914, Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh)

Der Krieg brachte Deutsche und Franzosen in direkten Kontakt. 380000 französische Soldaten waren als Kriegsgefangene in Deutschland und etwa 1 Millionen Deutsche kämpften in Frankreich. Entsprechend den Umständen kennzeichneten Ablehnung und Feindschaft das Bild des jeweils anderen. Die gefangenen französischen Soldaten waren beliebter Gegenstand von Witz- und Satireblättern sowie der illustrierten Zeitungen. Die französischen Offiziere erschienen hier arrogant und borniert. Die Verspottung der militärischen Elite sollte zugleich Frankreichs zivilisatorischen Anspruch in Zweifel ziehen. Die in Gefangenschaft geratenen französischen Soldaten spiegelten für viele deutsche Zeitgenossen ziemlich genau die französische Gesellschaft und deren moralisches Niveau wieder. Sie erschienen als Zeugen der französischen Dekadenz. Die negative Wahrnehmung des Feindes war zugleich Grundlage des eigenen positiven Selbstbildes. In dem Maße, wie die gefangenen Franzosen den Niedergang der französischen Zivilisation "bewiesen", bestätigten sie das hohe Niveau der deutschen Zivilisation.

links: Fliegende Blätter, Nr. 1319, S. 128)
rechts: (Illustrierte Zeitung, Nr. 1418, 3. September 1870) s. dazu auch Dok. 32 [6]

Besondere Aufmerksamkeit zogen die französischen Kolonialtruppen, die "Turcos und Zouaves [7] ", auf sich. Mit Empörung reagierte die deutsche Öffentlichkeit darauf, dass Frankreich "Barbaren" gegen die deutschen Soldaten einsetzte. Für die liberale "Vossische Zeitung" bestand kein Zweifel, "dass es der Gesittung Frankreichs nicht würdig ist, zur Ausfechtung von Zerwürfnissen mit europäischen Mächten seine afrikanischen Wilden herbeizuführen, und sich dadurch selbst auf eine tief unter seiner eigenen Bildung stehende Stufe der Gesittung zu stellen." Der Vorwurf, dass Frankreich durch den Einsatz der Kolonialtruppen die europäische Zivilisation verrate und gefährde und damit zugleich die Phrasenhaftigkeit seines eigenen zivilisatorischen Anspruchs enthülle, wurde in Karikaturen noch pointierter erhoben. Der Gefangennahme der Kolonialtruppen durch deutsche Soldaten kam daher eine besondere Bedeutung zu: Zuvor wild und ungestüm, waren sie nach der Gefangennahme diszipliniert und gesittet. In dieser Perspektive wurden die Turcos als Gefangene zu Beweisen für die Überlegenheit der deutschen Armeen und gaben deren Taten eine erzieherische, zivilisierende Dimension. Wie das Bild vom Feind als Negativfolie dient, vor der das eigene Selbstbild erst recht positive Konturen gewinnt, wird eindringlich an den Darstellungen der Franctireurs offenkundig. Die Partisanen, die ihre Heimat gegen die deutschen Invasoren verteidigten, erscheinen als Verbrecher- und Räuberbanden, gegenüber denen die soldatische Haltung der deutschen Truppen positiv hervorsticht.

links: "Aus dem Lande der Civilisation" (Kladderadatsch, Nr. 36, 7. August 1870)
mitte: (Illustrierte Zeitung, Nr. 1438, 21. Januar 1871) s. dazu auch Dok. 33 [8]
rechts: "Zuaven, Turcos und Zephyrs" (Berliner Wespen, Nr. 32, 5. August 1870)

In den französischen Darstellungen erschienen die deutschen Soldaten als finstere und bedrohliche Besatzer. Honoré Daumier verdichtete die negativen Wahrnehmungen der deutschen Soldaten als plündernde Gewalttäter in der Karikatur "Der Traum des neuen Gretchens" zu einer Warnung vor dem veränderten Charakter des neuen, preußischen Deutschlands, das aus dem Krieg hervorgegangen ist. Die Gretchen-Figur galt in Frankreich als Ausdruck des romantischen Deutschlands. Dem Gretchen, mit verzückt angespanntem Gesichtsausdruck, erscheinen hier aber im Traum ein preußischer Offizier, der seine Kriegsbeute darbietet, und ein preußischer Soldat, der eine Frau niedermacht. Die Karikatur wird zu einer Warnung an das deutsche Gretchen, sich der verwerflichen Herkunft der Gabe zu entsinnen. Die Karikatur belastet auch das neue Deutschland, das mit dem romantischen Stereotyp nichts mehr zu tun hat, mit den Schandtaten des Krieges. Es scheint im Begriff zu sein, einer Kombination aus Materialismus und Gewalt zu erliegen.

links: (La guerre illustrée, Nr. 16, 17. September 1870)
rechts: "Le rêve de la nouvelle Marguerite" (Le Charivari, 30.1.1867)

Die Reichsgründung wird zu einem Akt der Gewalt nicht nur gegenüber dem besiegten Frankreich, sondern auch gegen die einst souveränen deutschen Fürsten, die zu Lakaien, bzw. Trittbrettern des preußischen Königs werden.

links: (Le Charivari, 26.12.1870)
rechts: (Le Charivari, 18.1.1871)

Die deutschen Erwartungen an das neue Reich waren dagegen geprägt von der Hoffnung auf eine friedliche Zukunft, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Prosperität sich entfalten würden. Aus dieser Perspektive erschien nur Frankreich als Störenfried, der sich mit der Niederlage nicht abfinden konnte. Der zähe Widerstand der "Regierung der nationalen Verteidigung" führte in Deutschland zu Verdammungsphantasien, die - in Anspielung auf die Flucht Gambettas im Ballon aus dem belagerten Paris - im Austritt Frankreichs aus der Welt eine Garantie für den Frieden sahen. Das neue Deutsche Reich löste in Frankreich ähnliche unversöhnliche Darstellungen aus, indem es als Macht erschien, die die Sonne der Freiheit über Europa zum Erlöschen bringen könne. Solche Wahrnehmungen erklären sich vor dem Hintergrund der Annexion von Elsass und Lothringen, die in allegorischen Darstellungen als brutaler Raub dargestellt wurde.

links: (La guerre illustrée, Nr. 69, 22. März 1871)
mitte: "Zur Ballonfrage" (Kladderadatsch, Nr. 49, 23. Oktober 1870)
rechts: "L'éclipse sera-t-elle totale?" (Le Charivari, 17.3.1871)

Derartige Verteufelungen waren noch vom gerade beendeten Krieg geprägt, sie bestimmten aber bis ins 20. Jahrhundert mehr oder minder unterschwellig die Wahrnehmung des jeweils anderen. So konnte der Abschluss des Versailler Vertrages in Frankreich als Wiedergutmachung des historischen Unrechts von 1871 und als Strafe für ein imperiales und kriegerisches Deutschland erscheinen , während das Vertragswerk im 1918 besiegten Deutschland als neuer Beleg für die französische Rachsucht galt (siehe den Beitrag von R. Riemenschneider/K. J. Drewes [9] : Spielball der Rivalen).

"Traité de Paix 1919" (Gauthier et Deschamps avec la collaboration d'instituteurs et d'historiens. Cours d'histoire de France. Cours supérieur, certificat d'études, 2ème partie. Nouvelle édition conforme aux programmes officiels du 23 février 1923, Paris 1924, p. 247)

Heute ist der Krieg von 1870/71 vergessen und dennoch im Alltag präsent. In fast jeder deutschen und französischen Stadt erinnern Namen von Plätzen und Straßen an Politiker, Feldherrn oder Schlachten des Krieges. In Paris trägt eine große U- und S-Bahnstation den Namen des Kommandanten von Belfort - Denfert-Rochereau -, der die Stadt gegen die deutschen Belagerer verteidigte. In Deutschland gibt es in vielen Städten ganze Viertel deren Straßen nach Mars la Tour, Sedan oder Moltke benannt sind. Jedoch rufen diese Namen heute weder diesseits noch jenseits des Rheins feindselige Gefühle oder nationalistischen Stolz hervor. Sie sind Reminiszenzen einer vergangenen Epoche, deren Bedeutung vielen Menschen heute unbekannt ist.