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Einleitung

"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", das sind im breiten Verständnis die Losungsworte der Französischen Revolution, die zum Wahlspruch des französischen Staates geworden sind. Die Zweite Republik [1] (1848 - 1851) übernahm sie als Leitbegriffe, während der Dritten Republik [2] (1870 - 1940) wurden sie zur offiziellen Devise erklärt. Seitdem fehlt diese "geschichtsmächtige Trias" (Dreierformel) in keiner Verfassung. Auch die Vorstellung einer einheitlichen und unteilbaren Republik (La France une et indivisible), einer homogenen Nation, in der alle Bürgerinnen und Bürger mit den gleichen Rechten und Freiheiten ausgestattet sind, durchzieht als Tenor die Verfassungen Frankreichs der letzten 150 Jahre, einschließlich der am 4. Oktober 1958 [3] in Kraft getretenen, die bis heute die Grundlage der V. Republik [4] bildet. In Artikel 1 (siehe Endnote 1) wird auch hier die Beschwörungsformel von der "homogenen Nation" benutzt.

Dies ist von großer Tragweite. So gibt es in Frankreich offiziell keine ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten (siehe Endnote 2), sondern nur französische Staatsbürger mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten. Daran ändern auch die 1982 unter Staatspräsident Mitterrand erlassenen Dezentralisierungsgesetze [5] nichts, in denen Begriffe wie zivilisatorische Einheitlichkeit, kulturelle Uniformität und politischer Zentralismus nur scheinbar infrage gestellt sind (Gerdes 1987: 47).

Auch wenn der Begriff "Minderheiten" in Frankreich nicht verwendet wird und Minderheiten als solche nicht anerkannt werden, sind sie durch die Garantie, die allen Bürgern gewährt wird - also auch denjenigen, die zu einer de facto Minderheit gehören - vor Ungleichbehandlung durch das Gesetz geschützt: "[Sie] dürfen nicht diskriminiert werden, sie genießen die Möglichkeit, ungehindert ihren Glauben auszuüben, ihre Traditionen zu pflegen und ihre besonderen Merkmale zu erhalten" (Despeux 1999: 180). "Minderheitenschutz", soweit man in Frankreich davon sprechen kann, ist also im Sinne von "Schutz vor Diskriminierung" zu verstehen.

Folgerichtig vertritt Frankreich auch international die Auffassung, dass z. B. Minderheitenrechte i. S. von Artikel 27 des Internationalen Pakts [6] für bürgerliche und politische Rechte (CCPR) vom 19 Dezember 1966 nicht auf Frankreich anwendbar seien, so z.B. bei deren Ratifizierung: "… l'article 27 n'a pas lieu de s'appliquer en ce qui concerne la République [Française]". Die Begründung für die Ablehnung des Minderheitenbegriffs bezüglich Frankreichs wird u.a. in einer Deklaration Frankreichs bei der UNO deutlich: "Le peuple français n'admet aucune distinction établie sur des caractères ethniques, et écarte par-là même toute notion de minorité. Le gouvernement français se voit contraint aux termes de la Constitution de la République française [d.h. durch den heutigen Art. 1, s. oben] de s'opposer au principe même d'une telle étude". (16.09.1976, zit. in: Despeux, 1999: 182)

Minderheitenschutz bedeutet in Frankreich "Schutz vor Diskriminierung"

 

 

 


Quelle: links [7] / rechts [8]

Vorstellungen dieser Art sind Teil eines Gesellschafts- und Integrationsmodells, das im politischen Selbstverständnis vieler Franzosen durchaus seinen Platz hat. "Der Bürger bekennt sich als Individuum im alltäglichen Plebiszit (Ernest Renan) zu der in der Staatsnation verfassten politischen Gemeinschaft aller Franzosen, ungeachtet seiner sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Herkunft. (...) Gemeinschaftsbildung unter Einwanderern gehörte in Frankreich immer in die Privatsphäre" (Loch 1999: 119).

Es wäre indessen irreführend, eine "harmonische" Welt vorgaukeln zu wollen. Frankreich hatte im Verlauf seiner Geschichte immer wieder Probleme mit seinen Minderheiten, wie immer sie sich definierten (ethnisch, sprachlich, konfessionell o.a.). Sie sind in den letzten Jahrzehnten erneut aufgebrochen, seitdem sich nicht nur hier eine Art neuer Regionalismusbewegung formierte. Weite Teile Westeuropas wurden in den 1960er/1970er Jahren von regionalistischen Bewegungen überrascht, in Osteuropa folgen sie mit einigem Phasenverzug etwa zwei Jahrzehnte später.

Die Interpretation dieser Bewegungen als Indikatoren für das Wiederaufbrechen längst vergessen geglaubter ethnischer Konflikte (Persistenzthese) blieb nicht unwidersprochen, auch wenn es sicherlich richtig ist, dass in vielen Fällen tatsächlich alte Wunden neu aufgebrochen sind. Letztlich waren und sind diese eher statischen Modelle auch nicht allzu befriedigend. Plausibler scheinen, auch wenn einmal mehr vor vorschnellen Verallgemeinerungen gewarnt sei, dependenztheoretische Erklärungsansätze, bei denen Fragen von Unterentwicklung und Abhängigkeit eine zentrale Rolle spielen. Bereits in den fünfziger Jahren hatte der Ökonom Gunnar Myrdal (1959) auf die polarisierenden Folgen einer von wenigen ökonomischen und kulturellen Zentren aus kontrollierten "abhängigen" Entwicklung der (inter-) nationalen Peripherregionen aufmerksam gemacht, ein Ansatz, der sich später bei Hechter (1975) wiederfindet. Am deutlichsten werden Aspekte der zentral-peripheren Abhängigkeiten von Friedmann (1966) herausgestellt. In seinem Core-Periphery Modell sieht er als eine mögliche Reaktion auf die dauerhafte Benachteiligung einer räumlichen oder gesellschaftlichen Peripherie (Periphery) die politische Reaktion gegen das Zentrum (Core), die sich in oppositionellem Wahlverhalten ebenso äußern kann wie in deutlich krasseren Formen des politischen Widerstandes, bis hin zu terroristischen Bewegungen, die aus dem Untergrund heraus agieren können.

Frankreich ist in doppelter Hinsicht ein interessantes Beispiel, um diesen Fragen nachzugehen. Einerseits verfügt das Land über mehrere autochthone (d.h. einheimische) ethnisch-kulturelle Minderheiten, die im Zuge der historischen Entwicklung dem französischen Nationalstaat einverleibt und, aus ihrer subjektiven Sicht, damit ihrer Freiheit beraubt worden sind. In einem völlig anderen Kontext sind die Immigranten zu sehen, die besonders seit dem 19. Jahrhundert aus vielen europäischen, nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt auch aus nordafrikanischen Ländern in großer Zahl nach Frankreich eingewandert sind, deren Integration jedoch in völlig unterschiedlichen Mustern verlaufen ist und die sich, insbesondere mit Blick auf die Nordafrikaner, heute besonders in den Großstädten mit vielen ungelösten Problemen konfrontiert sehen. In diesem Zusammenhang erhalten die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelegentlich eine etwas fragwürdige Konnotation.

Siehe auch den Vergleich des Migrationsverlaufs und der diesbezüglichen Debatte in Frankreich und Deutschland durch Birgit Wehrhöfer.

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Endnoten

1) Article 1 de la constitution de la Vème République

Art. 1: La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale. Elle assure l'égalité devant la loi de tous les citoyens sans distinction d'origine, de race ou de religion. Elle respecte toutes les croyances." (version actuelle en Juillet 2003)

Définitions (Petit Robert 1, Paris, 1989):
Laïque (adj.): qui est indépendant de toute confession religieuse.
Laïcité (n.f.): Principe de séparation de la société civile et de la société religieuse, l'Etat n'exerçant aucun pouvoir religieux et les Eglises aucun pouvoir politique.

(2) Minderheiten/Minorités

Es existiert keine einheitliche, allgemeingültige Definition der Minderheit, sondern eine Vielzahl, die hier nicht wiedergegeben werden kann und soll. Zur Orientierung können folgende Ansätze herangezogen werden:

Die religiösen, sprachlichen und ethnischen Minderheiten gelten als die drei traditionellen Arten von Minderheiten. Sie wurden von Ermacora (1988) folgendermaßen definiert:

"als religiöse Minderheit im Sinne des Rechts der Vereinten Nationen kann einmal eine Personengruppe angesehen werden, die sich zu religiösen Vorstellungen bekennt, die sich von der Staatsreligion unterscheiden oder die sich vom religiösen Bekenntnis der Mehrheit des Volkes abheben. Um eine religiöse Minderheit handelt es sich aber auch bei Personengruppen, die aufgrund ihres Religionsbekenntnisses im Gegensatz zur atheistischen Grundhaltung der Bevölkerungsmehrheit stehen. Dies insbesondere dann, wenn in dem betreffenden Land das Grundrecht auf freie Religionsausübung nicht gewährt wird, die religiöse Minderheit aber an der Aufrechterhaltung ihrer Religion interessiert ist;(…)

als sprachliche Minderheit im Sinne des Rechtes der Vereinten Nationen kann eine Gruppe angesehene werden, deren Angehörige sich schriftlich und /oder mündlich, offensichtlich oder privat einer Sprache bedienen, die sich von der in einem bestimmten Gebiet gebrauchten Sprache unterscheidet, und die nicht als Nationalsprache angesehen wird; Ziel dieser Gruppe ist die Aufrechterhaltung und Pflege dieser Sprache;(..)

um eine ethnische Minderheit im Sinne des Rechts der Vereinten Nationen handelt es sich bei einer Gruppe, die ihre eigene Sprache, Kultur und Geschichte besitzt, die ein Gruppenbewusstsein aufweist und deren Angehörigen diese Besonderheiten erhalten wollen".

Zusammenfassend schlägt Despeux (1999) folgende Definition der Minderheit vor:

"eine Minderheit ist eine sich in einer numerischen und machtmäßigen Inferioritätslage befindliche Menschengruppe, die die Staatsangehörigkeit des Staates, in dem sie lebt, besitzt und bei der das Solidaritätsgefühl erkannt werden kann, ihre aufgrund konkreter spezifischer Merkmale gebildete Identität zu bewahren und zu schützen."

Anzumerken ist allerdings, dass "jeder Staat bei der Wahl der Kriterien [für die Definition] frei ist, wie zahlreich diese auch sein mögen, und [es] ihm ohnehin immer zusteht, eine Minderheit nicht anzuerkennen", so dass "die Definition des Minderheitsbegriffs relativ bleibt".