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'Die endlose Frage nach den Ostgrenzen Europas'
 
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Die endlose Frage nach den Ostgrenzen Europas

Für Brüssel ist die Ukraine eine Art Lapsus. Im Augenblick ist sie zwar nicht so verabscheuungswürdig wie Weißrussland. Und natürlich erklären unsere politischen Führer, dass sie die Absicht haben, der EU und der NATO beizutreten. Aber es bleibt bei Erklärungen. Die Website der Zeitschrift "Ї" [1] präsentiert seit über einem Jahr die Karte des künftigen Europa, die meiner Meinung nach, die Brüsseler Vorstellung widerspiegelt. Auf der Karte sieht man zwischen der EU und Russland an Stelle der Ukraine ein Meer. Zweifellos wäre diese Situation für alle Beteiligten ideal. Jedoch, die Ukraine existiert - und darin besteht das Problem. Zurzeit tut die EU nichts anderes, als sie zu ignorieren, denn für sie ist die Ukraine "unerwünscht". Nicht nur, weil sie dieses und kein anderes politisches Regime hat. Teilweise ist die Form des politischen Regimes in der Ukraine auch darauf zurückzuführen, dass Brüssel dieses Land komplett ignoriert. Sie ist nicht allein Beleg der Unfähigkeit des ukrainischen Volkes, seine Dinge zu regeln, oder Konsequenz des "langen Arms von Moskau".

Abbildung 2:

 

"Die Webseite der Zeitschrift "Ї" präsentiert seit über einem Jahr die Karte des künftigen Europa, die meiner Meinung nach die Brüsseler Vorstellung widerspiegelt. Auf der Karte sieht man zwischen der EU und Russland an Stelle der Ukraine ein Meer."

 

Internet-Quelle [2]

Es bleiben jedoch einige Punkte, über die die ehrwürdige Konferenz diskutieren sollte. Führt man eine Diskussion über Mitteleuropa, müssen zumindest zwei Begriffe geklärt werden: "Europa" und "die Mitte". Jeder wird mit mir einer Meinung sein, dass der Begriff "Europa" mit etwas Positivem, Respektablem, Zivilisiertem und gleichzeitig Gelungenem verknüpft wird. Alle wünschen sich, zu einem solchen Europa zu gehören, vor allem die neuen Mitglieder der EU. Dennoch muss daran erinnert werden, dass es in der Vergangenheit verschiedene Definitionen von Europa gegeben hat. Die Geografen, die sich für Berge und Meere interessieren, beschrieben das Gebiet, das sie kühn Europa nannten und dehnten es bis zum Ural und Kaukasus aus. Diese Grenzen Europas sind heute noch in den Primarschulen des post-sowjetischen Raumes gültig.

Abbildung 3:

Die Ostgrenze Europas: ein Defintionsdilemma seit der Antike

 

 



Conception: H.-D. Schultz, Kartographie G. Schilling 

Die Kriterien zur Begrenzung Europas, derer sich die Politiker bedienen, sind weitaus flexibler als die der Geografen. Sie werden geleitet von politischen Interessen, die von Zeit zu Zeit reiner Höflichkeit oder offenem Zynismus weichen. General de Gaulle hatte die Dreistigkeit, die Grenzen Europas von "oben herab" am Ural zu ziehen und somit den Körper der UdSSR, der in Wirklichkeit nichts anderes als Russland war, in zwei Stücke zu schneiden. Dabei stellt sich allerdings die Frage, was Russland mit seinem sibirischen "Schwanz" machen soll (75% des Staatsgebietes und 20% der Bevölkerung).

In der Zwischenzeit hat die junge Europäische Union - unter Druck der Vereinigten Staaten - die Kühnheit besessen, die Republik Türkei einzuladen, ihr Mitglied zu werden (5% europäisches Staatsgebiet bis zum Bosporus). Auf diese Weise haben die Geopolitiker die Grenzen der Europäischen Union bis zum Tigris und Euphrat - der Wiege der Zivilisation - verschoben. Im Dezember 2004 wird eine Antwort auf diese "Kühnheit" fällig: Entweder wird mit der Türkei ein Aktionsplan zu ihrem EU-Beitritt unterzeichnet oder den leichtgläubigen Türken werden weiter die Köpfe verdreht. Allerdings ist dies gefährlich. Bereits jetzt gibt es mehr Türken in Berlin als vor Wien bei der Belagerung im Jahr 1683, als Mitteleuropa durch Jan III. Sobiesky [3] , König der Polen gerettet worden ist - nicht ohne Unterstützung der ukrainischen Zaporoger Kosaken mit Semen Paliy an der Spitze. In dieser Hinsicht ist die Haltung des amerikanischen State Department recht kurios: Nach einem sehr kurzen Zeitraum, in dem die Ukraine zu "Europa" gezählt wurde, definiert es gar nicht mehr, was das Gebiet von Peremichl bis Wladiwostok darstellt.

Paradoxerweise ist dieses Gebiet auf amerikanischen Karten nicht einmal abgebildet - ohne Witz! Die amerikanischen Politiker sind zweifellos desorientiert. Für sie ist dieser ganze Raum genau das, was die russischen Nationalisten als Eurasien bezeichnen. Die Ukraine kommt in dieser Darstellung einfach nicht vor, weil sie keinen asiatischen "Schwanz" besitzt. Unglücklicherweise wird es der Ukraine ohne Anschluss an Russland niemals gelingen, ein echt eurasisches Land zu werden. Gleichzeitig kann man nicht umhin zu bemerken, dass all diese längst vergangenen Dinge kleine Schwächen alter Politiker darstellen. Derzeit ist der Begriff "Europa" sehr zynisch zugunsten der EU enteignet, denn de facto glaubt die EU, Europa zu sein, und gibt sich seinen Namen. Das kann man akzeptieren oder auch nicht. Aber dies ist der Stand der Dinge. Die Ukrainer wie alle anderen werden sich schließlich damit abfinden müssen. In diesem Zusammenhang sollte aber auch an die Intellektuellen erinnert werden, die nach der Katastrophe von 1945 damit begonnen haben, nach neuen Grundlagen für Europa zu suchen. Sie suchten nach den geistigen Fundamenten der Alten Welt und stützten sich auf die Ideen des Christentums. In Europa hat jedoch der Niedergang des Christentums begonnen, während es in Lateinamerika in erstaunlicher Weise aufblüht. Übergenaue Wissenschaftler haben Europa auf die römisch beeinflusste Welt oder auf die Welt des römisch-katholischen Christentums begrenzt und dabei die post-orthodoxen kommunistischen Länder ausgeschlossen, allen voran Russland. Indessen gelang es den Erben der griechischen Schrift und der griechisch-orthodoxen Tradition nicht, in diese Konzeption Europas aufgenommen zu werden. Die Erben der "griechischen" oder "byzantinischen" Tradition wurden von diesem Europa schlichtweg zurückgewiesen. Wahr ist, dass die Stellung Griechenlands in dem neuen Projekt der Europäischen Union für die römischen Puristen etwas unklar wurde.

Abbildung 4:

Die Aufteilung der Welt in "Kulturen" nach Samuel Huntington.
Huntington ist Autor des Artikels "The Clash of civilizations" (Kampf der Kulturen), der im Sommer 1993 von der Zeitschrift Foreign Affairs publiziert wurde. Später wurde der Artikel zu einem Buch ausgearbeitet. Während der Kolonialismus durch ökonomische Auseinandersetzungen geprägt war und der Neokolonialismus durch politische Konfrontationen könnte der Postkolonialismus Huntington zufolge durch kulturelle Auseinandersetzungen bestimmt sein und damit die Gefahr eines "Krieges der Kulturen" bestehen.

Internetquelle [4]

Samuel Huntington hat mit der Begeisterung eines amerikanischen Neubekehrten versucht, diesen gordischen Knoten zu lösen, indem er die orthodox-islamische (?) Welt von der römisch geprägten Welt trennte. Im Feuer dieses Gefechts ist ihm nicht einmal aufgefallen, dass er die Ukraine und Weißrussland in zwei Teile geschnitten hat. Griechenland - die Wiege der europäischen Kultur - hat er aus der Union der europäischen Kultur hinauskatapultiert. Unsere europäischen Kollegen hätten sich folgende Frage stellen müssen: Worin besteht die geistige Einheit Europas ohne Griechenland? Einige scharfsinnigere Wissenschaftler führten die "demokratische Tradition" an, aber nach zwei Jahrzehnten Nazismus und Faschismus im Herzen Europas fällt es schwer, davon zu sprechen. So ist man nie zu einer genauen Definition der geistigen Fundamente "Europas" gelangt, obwohl für dieses Thema recht viele Lanzen gebrochen worden sind. Das Thema bleibt weiter offen, wahrscheinlich, um die Existenz mehrerer Lehrstühle an europäischen Universitäten zu begründen.

Schließlich darf die Suche nach der Identität Europas niemals enden, es handelt sich um einen permanenten Prozess. Es versteht sich, dass alle diese intellektuellen Anstrengungen darauf ausgerichtet sind, bestimmte wirtschaftliche und politische Realitäten zu sakralisieren. Denn in der Tat sind die Fundamente der Europäischen Union viel stärker politisch und wirtschaftlich als christlich. Und nun wird es in wenigen Tagen eine erweiterte EU geben, die an der polnisch-ukrainischen Grenze endet. Von nun an werde ich den Begriff Europa anstatt Europäische Union benutzen. Das ist einfacher, kürzer und aufrichtiger. Ich hoffe, dass sich Europa in einigen Jahren bis zur rumänisch-ukrainischen Grenze erstrecken wird. Schade, dass es keine albanisch-ukrainische Grenze gibt. Es ist klar, dass die Ukraine an diesem Prozess nicht teilhaben wird. Bei dem "europäischen Projekt" bleibt sie außen vor. Zurzeit wünscht sie auch nicht, am "eurasischen" Projekt Russlands teilzunehmen, das die Schaffung eines - möglicherweise nicht zu sehr - modernisierten und liberalisierten Reiches anstrebt. Die Ukraine bleibt "dazwischen", auf dem Grund eines Meeres, wie uns die Karte lehrt. Das Vorhaben des Status eines "neuen Nachbars der EU/Europas", das die Italiener entwickelt haben, hat in der Ukraine entweder zu irritierten Bemerkungen oder zu schallendem Gelächter geführt - Polen und Ungarn haben endlich ihren "neuen Nachbarn" wieder gefunden!