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'Ende einer Sonderrolle? Entwicklungen und Umbrüche nach 1945'
 
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Ende einer Sonderrolle? Entwicklungen und Umbrüche nach 1945

Ausgangs des Zweiten Weltkrieges musste Frankreich - wie Großbritannien - endgültig Abschied von der Rolle als Weltmacht nehmen. Mehr noch: Die demütigende Niederlage im Juni 1940, als die hitlerdeutschen Invasionstruppen die französische Armee in wenigen Wochen auflösten, die anschließende Besetzung der Hälfte des Landes und die Installierung des Kollaborations-Regimes in Vichy erschienen vielen Franzosen als Symbol für einen tiefergehenderen, nicht nur militärischen Niedergang Frankreichs. Das Land hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Industrialisierungs- und Modernisierungsprozess verlangsamt, damit mehr und mehr den Anschluss an seine Nachbarn verpasst und wies schließlich einen erheblichen ökonomischen Modernisierungsrückstand auf.

Abbildung 5:

Frankreich während des Zweiten Weltkriegs

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [1]

Die Impulse zur Erneuerung kamen auf verschiedenen Pfaden. Zunächst hatte sich Charles de Gaulle mit seinem Appell vom 18. Juni 1940 von London aus an die Spitze der Widerstandsbewegung gegen die hitlerdeutsche Besetzung und das Kollaborationsregime von Vichy [2] gesetzt und es mit zäher Hartnäckigkeit geschafft, mit eigenen Truppen an den alliierten Befreiungskämpfen beteiligt zu sein. Damit hatte de Gaulle nicht nur die französische Ehre wiederhergestellt, weil sich das Land nach der Befreiung im Mai 1944 mit der (inneren wie äußeren) Widerstandsbewegung (résistance) identifizieren und die Schmach des Vichy-Kollaborationsregimes löschen konnte. De Gaulle [3] erkämpfte als Chef der provisorischen Regierung (1944-46) für Frankreich auch einen Platz als alliierte Siegermacht. Obwohl Frankreich an den für die Nachkriegsordnung entscheidenden alliierten Konferenzen von Jalta und Potsdam nicht beteiligt war, trat es dem Potsdamer Abkommen bei und erhielt, wie die USA, die Sowjetunion und Großbritannien, als vierte Siegermacht Rechte und Verantwortlichkeiten für das ganze besiegte Deutschland. Frankreich wurde Besatzungs- und später Schutzmacht in Deutschland und West-Berlin. Mehr noch: Es erhielt einen Sitz als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates und nahm damit die gleiche privilegierte Stellung ein wie die USA, die Sowjetunion, China und Großbritannien. 

Abbildung 6:

Karte der Besatzungszonen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg

 

 

 

Internet-Quelle [4]

Im Inneren zogen die neuen Führungseliten in Staat, Verwaltung und Wirtschaft die Konsequenzen aus dem Entwicklungsstau und leiteten eine umfassende Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft ein, mit deren Hilfe Frankreich seinen kumulierten Entwicklungsrückstand aufholen und Anschluss an seine Nachbarn finden sollte. Modernisierung oder Dekadenz - so lautete das von Jean Monnet [5] , dem späteren Mitbegründer der europäischen Einigungsbewegung geprägte Motto für den ersten Wiederaufbauplan nach dem Krieg. Dieses Leitmotiv kennzeichnet, wie kein anderes, den hohen, nicht nur ökonomischen Stellenwert des Modernisierungsthemas für die französische Nachkriegspolitik bis in die heutige Zeit. Tatsächlich hat Frankreich in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten (vom französischen Ökonom Jean Fourastié [6] (1907-1990) mit dem heute geflügelten Wort der Trente glorieuses [7] , d.h. der dreißig glorreichen Jahre bezeichnet) den Sprung von einer traditionalistischen, halbagrarischen Gesellschaft in eine der führenden westlichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften erfolgreich vollziehen können.

Für die politischen Verantwortlichen stellte die angestrebte wirtschaftliche Stärkung und Modernisierung des Landes immer auch eine notwendige Vorbedingung dar, um den außenpolitischen Anspruch Frankreichs zu stützen. Diese enge Verquickung zwischen ökonomischen und politischen Motiven hat auch den spezifisch französischen Weg nach 1945 nachhaltig geprägt: es handelte sich um eine durch starke zentralstaatliche Impulse vorangetriebene Modernisierung von oben, in der staatliche Strukturlenkung und technologisch-industrielle Großprojekte ihren festen Platz hatten und in der Prestigepolitik eine nicht unwichtige Rolle bei der Auswahl und Finanzierung der Projekte spielte. Die herausragenden Produkte dieses High-Tech-Colbertismus (Elie Cohen) wie das Überschallflugzeug Concorde [8] , die europäische Trägerrakete Ariane, zahlreiche moderne Waffensysteme oder neuerdings der Hochgeschwindigkeitszug TGV [9] (Train à grande vitesse) standen mithin nicht nur für den ökonomischen und technologischen Leistungsstandard, sondern immer auch für die Ausstrahlung Frankreichs in der Welt.

Abbildung 7:

Concorde

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [10]

Abbildung 8:

TGV

 

 

 

 

Internet-Quelle [11]

Die Zeit der Vierten Republik [12] (1946-1958) war allerdings durch den endgültigen Niedergang des französischen Kolonialreiches und durch zermürbende Kolonialkriege in Indochina und Nordafrika geprägt, an denen sie schließlich auch zerbrach. Die von General de Gaulle nach seiner Rückkehr zur Macht 1958 gegründete Fünfte Republik [13] (seit 1958) schuf demgegenüber neue Grundlagen der Verfassung mit einer Stärkung der Staatsautorität und der Exekutive, vollendete die Dekolonisierung in Nordafrika (1962), vollzog den 1957 mit den Römischen Verträgen [14] unterzeichneten Weg in die europäische Integration, führte eine durchgreifende Sanierung der Wirtschaft durch und forcierte den 1944 begonnenen Weg der wirtschaftlich-industriellen Modernisierung. Vor allem aber erneuerte de Gaulle den internationalen Anspruch Frankreichs durch eine Politik der nationalen Unabhängigkeit. Mit der Zündung der ersten französischen Atombombe 1960 rückte Frankreich in den exklusiven weltweiten Club der Atommächte auf. Mit dem Austritt aus der integrierten NATO-Verteidigungsorganisation demonstrierte das gaullistische Frankreich seinen Anspruch auf nationale Unabhängigkeit gegenüber den Supermächten, vor allem aber gegenüber den USA, deren Führungsanspruch im westlichen Bündnis von Frankreich kritisiert wurde. In Europa drückte sich der eigenwillige Kurs Frankreichs im Beharren auf nationale Souveränität gegenüber weitergehenden Brüsseler Integrationsversuchen (Europa der Vaterländer) sowie in der Forderung nach einem gegenüber dem Führungsanspruch der USA emanzipierten europäischen Europa unter französischer Führung aus. Wenngleich die Nachfolger de Gaulles ab 1969 nach und nach Veränderungen vornahmen, die sich unter anderem in einem verbindlicheren, weniger schroffen Stil sowie in einem stärkeren, positiveren Engagement im atlantischen Bündnis und im Rahmen der europäischen Einigung ausdrückten, blieben die Grundkonstanten der gaullistischen Außenpolitik trotz aller Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen weitgehend erhalten. Jüngstes Beispiel dafür ist die Ablehnung des von den USA betriebenen Irak-Krieges (2003): Frankreich kritisiert den "Unilateralismus" der USA und setzte ihm das Leitbild einer multipolaren Weltordnung entgegen.

Diese Politik hatte Frankreich eine besondere Position in der internationalen Politik der Nachkriegszeit gesichert. Im Rahmen der über vier Jahrzehnte andauernden Phase der Ost-West-Spaltung, der von den Supermächten USA und UdSSR dominierten Militärblöcke, hatte Frankreich einen durchaus komfortablen Platz eingenommen und seine wichtige politische Rolle festigen können. Fester Teil des atlantischen Bündnisses (dies wurde von de Gaulle auch nach dem Austritt aus der integrierten NATO-Verteidigungsorganisation nie infrage gestellt), geschützt durch die US-Truppenpräsenz und vor allem den amerikanischen Atomschirm, konnte es im Rahmen des Bündnisses seine eigenständige Sonderrolle ausbauen und Profil gewinnen: Mit dem Aufbau der französischen Atomstreitmacht force de frappe und den oben erwähnten diplomatischen Statusmerkmalen (Sitz im Weltsicherheitsrat, Status als alliierte Schutzmacht in Deutschland) untermauerte Frankreich seinen Anspruch auf eine unabhängige, eigenständige, nicht der westlichen Führungsmacht USA untergeordnete Rolle. Die Politik der gezielten, wenngleich begrenzten Kritik und Kontroverse gegenüber den USA, ein Diskurs, der auf Überwindung des Blockdenkens ausgerichtet war, entsprechende - wenngleich vorsichtige - Annäherungen an die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes [15] und der Einsatz für die Belange der Dritten Welt trug Frankreich Ärger bei manchen seiner Partner, aber auch Anerkennung und Prestige ein. Da die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der historischen Belastungen und der deutschen Teilung in ihrer außenpolitischen Beweglichkeit eingeschränkt war und Großbritanniens Einfluss angesichts einer fortdauernden britischen Distanz zu Europa begrenzt blieb, konnte Frankreich im Rahmen der entstehenden (west-) europäischen Einigung eine Führungsposition beanspruchen, die es zugunsten eines europäischen Europa mit eigenständigen Positionen und Interessen gegenüber den USA zu nutzen versuchte.

Abbildung 9:

Die Konferenz von Jalta

Churchill, Roosevelt und Stalin (v.l.n.r.): Die Grossen Drei besprachen auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 das weitere Vorgehen bezüglich der Nachkriegsordnung. Im Wesentlichen bestätigten die drei Staatschefs die in Teheran gefassten Beschlüsse der Aufteilung Deutschlands und der Westverschiebung Polens. Frankreich war an der Konferenz nicht beteiligt

Internet-Quelle [16]

So hatte Frankreich das von den Interessenssphären der Supermächte dominierte Europa von Jalta [17] erbittert bekämpft und sich doch gleichzeitig häuslich und komfortabel darin niedergelassen; es hatte eine Sonderrolle spielen können, die doch nur auf der Grundlage der festen Verankerung im atlantischen Bündnis ermöglicht worden war. Darin wird wiederum die Ambivalenz der Politik des Ranges deutlich: ihre realen Grundlagen und ihre Grenzen, die den Anspruch Frankreichs oft als übersteigert erscheinen ließen. Aber wer nur diesen (partiellen) Widerspruch zwischen Sein und Schein thematisiert, erfasst nicht die volle Wirklichkeit. Frankreich hat seine Sonderrolle nicht nur um ihrer selbst Willen gesucht; es hat immer wieder seine Partner und Alliierten mit Problemen konfrontiert, denen andere gern ausgewichen wären: allen voran mit der Frage nach der Finalität der europäischen Einigung, nach der Definition eigenständiger europäischer Interessen und nach der Rolle Europas in der internationalen Politik. Damit hat Frankreich dem notwendigen Selbstfindungsprozess der Europäischen Gemeinschaft einen großen Dienst erwiesen. Im übrigen war den französischen Verantwortlichen die Lücke zwischen Ambition und Realität stets bewusst, aber eben kein Grund, deswegen auf die Ambitionen zu verzichten.

Abbildung 10a-b:

Der Fall der Mauer

Internet-Quelle [18]

Mit dem Fall der Mauer [19] und der deutschen Einheit, dem Zerfall der kommunistischen Regime und dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist allerdings das Fundament der französischen Rollenbestimmung nachhaltig erschüttert worden. Die von Frankreich vor 1989 angestrebte und auch ausgeübte außen- und sicherheitspolitische Führungsrolle in Westeuropa wurde mehrfach infrage gestellt. Zum einen verlagerten sich die Gewichte zwischen Frankreich und Deutschland: während das vereinigte, größer gewordene Deutschland seine volle Souveränität erhielt, wurde der besondere Status Frankreichs als alliierte Schutzmacht beendet. Ferner sieht sich Frankreich im größer gewordenen Europa geographisch an den Rand gedrängt, während Deutschland in seiner Mittellage neue Nachbarn und Partner erhält, an ein gemeinsames mitteleuropäisches Erbe anknüpfen kann und mindestens theoretisch neue Optionen erhält. Schließlich hat sich auch die - im wesentlichen politische - Bedeutung der französischen eigenständigen Atomstreitmacht verändert. Auch der Zerfall der Sowjetunion und die damit einhergehende Verstärkung der Vorherrschaft der USA schmälerten den Spielraum für die Entfaltung der französischen Sonderrolle.

Nicht nur in Europa, auch in den angestammten französischen Einflusszonen wie dem frankophonen Afrika und in der arabischen Welt ist der französische Einfluss zurückgegangen. Die im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte wiederholt gestellte Frage, ob Frankreich die seinen Ambitionen entsprechenden ökonomischen, politischen und militärischen Mittel besitze, hat damit - auch unter dem Druck beschränkter finanzieller Ressourcen - neue, brisante Nahrung erhalten. Symptomatisch ist die französische Beteiligung am Golfkrieg 1991, die von Präsident Mitterrand [20] ausdrücklich auch unter Berufung auf das Ziel, den französischen Rang zu wahren, begründet wurde: sowohl die klare Führungsrolle der USA im Verlauf der Kriegsführung als auch die starke Abhängigkeit der französischen Truppen von der logistischen Unterstützung der USA machten die Wirkungsgrenzen Frankreichs in aller Offenheit deutlich. Ökonomisch ist die Zeit der prestigeträchtigen Großprojekte des High-tech-Colbertismus ohnehin längst vorbei, weil diese sich als zu kostspielig und in ihren Modernisierungseffekten als zwiespältig erwiesen haben.

In einer Welt der forcierten ökonomischen Globalisierung, die den Einfluss der Nationalstaaten immer mehr begrenzt, in einem internationalen System, in dem kein Gegengewicht zur Vorherrschaft der USA zu existieren scheint, in einem veränderten, größer gewordenen Europa schließlich, das auf der Suche nach neuen Sicherheitsstrukturen ist, muss Frankreich wie auch seine Partner seine internationale Rolle neu vermessen und bestimmen. Viele Autoren sehen darin einen ebenso heilsamen wie unausweichlichen, wenngleich für das französische Selbstverständnis schwierigen Normalisierungsprozess, wie Jean Chesneaux am Ende einer Analyse der Rolle Frankreichs als mittlere Weltmacht:

"Es könnte sein, dass die ´mittlere Weltmacht´ als geopolitische Kategorie sowohl in ihrer Begrifflichkeit als auch in ihrer Ambition in sich widersprüchlich ist und dass sie folglich nur eine vorübergehende Formulierung darstellt: ein Versuch, die notwendige Neubewertung der realen Position Frankreichs in der Welt zu verschieben, und somit auch den notwendigen Übergang von der authentischen Weltmacht, die es war, zur Mittelmacht, die es nolens volens geworden ist." (Chesneaux 1992, S. 29).

Andere wiederum halten an der Ambition Frankreichs, eine besondere Mittelmacht zu sein, weiter fest. So äußerte sich Präsident Jacques Chirac in seinen zum Präsidentschaftswahlkampf 1995 formulierten programmatischen Überlegungen:

"Wenn Frankreich sich mit dem Status einer Mittelmacht begnügen würde, wäre seine Zukunft vorgezeichnet. Es würde den Rest seines Einflusses verlieren, um ein Satellitenstaat zu werden, dessen Arbeitsplätze vom weltweiten Wachstum und dessen Sicherheit von fremden Entscheidungen abhängig würden." (Chirac 1994, S. 14ff.).

Diese an das gaullistische Erbe anschließenden Zielsetzungen sind heute nicht einfacher geworden. Mehr und mehr gewinnt die Europäische Union einen zentralen Stellenwert für die Formulierung französischer Interessen. Die wirtschaftliche und politische Integration hat längst ein derartiges Ausmaß erreicht, dass immer mehr Bereiche der Innen-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik davon erfasst werden. Frankreich ist sich schon seit langem, aber heute mehr denn je bewusst, dass seine Ziele ohne eine enge europäische Zusammenarbeit nicht mehr zu erreichen sind. Es war der Neogaullist Jacques Chirac [21] , der bereits 1974 in seiner Regierungserklärung als Premierminister den europäischen Horizont französischer Politik in aller Klarheit formulierte: "Die europäische Politik gehört nicht mehr zu unserer Außenpolitik. Sie ist etwas anderes und nicht mehr zu trennen von dem fundamentalen Projekt, das wir für uns selbst entwerfen." (Le Monde, 07.06.1974) Entsprechend hat sich Frankreich seit den achtziger Jahren verstärkt für eine Vertiefung der europäischen Integration engagiert und sich für eine handlungsfähige Europäische Union in der Wirtschafts-, aber auch der Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt. Allerdings verträgt sich dieses Ziel immer weniger mit dem Festhalten am nationalstaatlichen Charakter der Außen- und Sicherheitspolitik und mit der Rhetorik nationaler Größe und Unabhängigkeit. Frankreich wird - ebenso wie seine Partner - eine Antwort auf diesen Widerspruch finden müssen.