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'Kontrolle Deutschlands durch Integration'
 
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Kontrolle Deutschlands durch Integration

Frankreichs Bereitschaft, die europäische Integration nach 1945 voranzutreiben, ist wesentlich dadurch motiviert worden, dass es galt, das "deutsche Problem" zu lösen. Deutschland und Frankreich, die beide aus dem Frankenreich Karls des Großen nach dem Teilungsvertrag von Verdun 843 hervorgegangen waren und die lange Zeit friedlich nebeneinander gelebt hatten, sind seit dem siebzehnten Jahrhundert aneinandergeraten. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges hatte sich Frankreich Teile des Habsburger Kaiserreiches aneignen können. Im weiteren Verlauf gelangten Teile der Pfalz an Frankreich. In Deutschland rief dies eine antifranzösische Stimmung hervor, die auch den deutschen Nationalismus prägen sollte. Die Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 wurde in Frankreich als nationale Demütigung empfunden, weil die französische Armee auf eigenem Boden geschlagen worden war und weil Frankreich seine Rolle als Großmacht verloren hatte. Teile Frankreichs (Elsaß-Lothringen) gingen an Deutschland. Demgegenüber entwickelte sich Deutschland politisch und wirtschaftlich zu einer Großmacht. Der Chauvinismus bestimmte fortan das Bild und prägte die Vorstellung einer "Erbfeindschaft" zwischen beiden Ländern, die nach einer Niederlage nur den Wunsch nach Revanche kannten.

Dazu gab es im Ersten Weltkrieg [1]  für Frankreich die nächste Gelegenheit. Der Friedensvertrag von Versailles [2]  (1919) konnte deshalb nur eine neuerliche Quelle für Streitigkeiten, Missverständnisse und Revanchegedanken [3]  - diesmal auf deutscher Seite - sein. Die Abtrennung des Saarlandes, der Verlust Elsass-Lothringens, die Besetzung linksrheinischer Gebiete und die Schaffung einer entmilitarisierten Zone rechts des Rheins schwächten zwar Deutschland und kamen dem französischen Streben nach Sicherheit vor Deutschland entgegen; auch war Frankreich zur führenden Militärmacht auf dem europäischen Kontinent geworden. Doch war diese Konstellation durchaus fragil, sobald sich Deutschland nach Bündnispartnern umsah. Als sich Deutschland und Rußland daher im Vertrag von Rapallo [4]  (1922) auf einen gegenseitigen Verzicht ihrer Ansprüche aus der Zeit des Krieges einigten, musste dies in Frankreich als entscheidende Schwächung der Nachkriegsordnung, die ja Sicherheit gegenüber Deutschland gewähren sollte, verstanden werden. Rapallo wurde zum Trauma französischer Politik.

Abbildung 3:

Sitzungssaal der Konferenz von Locarno
Postkarte mit gedruckten Unterschriften beteiligter Politiker
Oktober 1925

Internet-Quelle [5]

Die Konferenz von Locarno [6]  (1925) mit der Festlegung der Grenze, dem deutschen Verzicht auf Elsaß-Lothringen und der Anerkennung der entmilitarisierten Zone am Rhein wurde zwar zum Kontrapunkt von Rapallo und bestätigte, dass beide Seiten sehr wohl in der Lage waren, zu einer friedlichen Beilegung ihrer Differenzen zu gelangen. Doch war die Annäherung nur von kurzer Dauer, besetzten doch 1940 [7]  deutsche Truppen weite Teile Frankreichs. Als auf den Konferenzen von Jalta [8]  (4-11.2.1945) und Potsdam [9]  (17.7.-2.8.1945) über das Schicksal des besiegten Deutschlands entschieden wurde, war Frankreich nicht beteiligt. Erst später trat es dem Potsdamer Abkommen bei. War damit bestätigt, dass Frankreichs Position gegenüber den beiden Supermächten geschwächt war, und resultiert aus dieser Konstellation die in Frankreich verbreitete Abneigung gegen das "System von Jalta" [10] , so war Frankreichs Streben nach Sicherheit gegenüber Deutschland unverändert stark vorhanden. Allerdings bildeten sich alsbald zwei unterschiedliche Denkschulen und Strategien heraus, wie Sicherheit vor Deutschland am besten zu erreichen sei: 

  • Das erste Sicherheitskonzept war national verankert und setzte darauf, dass Frankreich militärisch, politisch und wirtschaftlich zu stärken und das besiegte Deutschland so weit wie möglich zu schwächen seien. Auf diese Weise sollte künftigen deutschen Aggressionen gegen Frankreich der Boden entzogen werden. 
  • Das zweite Sicherheitskonzept setzte nicht auf eine Schwächung Deutschlands, sondern vertraute vielmehr darauf, dass die feste Einbindung Deutschlands in die europäische Staatengemeinschaft den bilateralen Differenzen den Boden entziehen würde. Der deutsch-französische Gegensatz sollte also durch ein europäisches Integrationskonzept überwunden werden. Mit diesem Konzept war zugleich die Vorstellung verbunden, dass die Einbindung Deutschlands dann optimal sei, wenn sie zur Führerschaft Frankreichs in den europäischen Institutionen führe. 

Die französische Politik gegenüber Deutschland war in der unmittelbaren Nachkriegszeit deutlich vom ersten Konzept bestimmt. Die in den Besatzungszonen [11]  praktizierte Politik, der Widerstand gegen eine einheitliche Verwaltung der Besatzungszonen und die Abtrennung des Saarlandes sprechen dafür. Erst als der Kalte Krieg [12]  spürbar wurde, wandte sich Frankreich auf Druck der westlichen Alliierten dem Integrationskonzept zu. Der Plan [13]  des französischen Außenministers Robert Schuman [14]  von 1950, die Kohle- und Stahlproduktion beider Länder gemeinsam mit der anderer Partnerstaaten zusammenzuschließen, war der symbolhafte Ausdruck des Einschwenkens Frankreichs nicht nur auf eine neue Sicherheitsstrategie gegenüber Deutschland, sondern auch auf eine aktive Europapolitik. Die Sicherheitsdoktrin lautete fortan nicht mehr "Sicherheit vor und gegen Deutschland", sondern wurde umgemünzt in: "Sicherheit vor der Sowjetunion und Deutschland mit einer fest im Westen integrierten Bundesrepublik".

Abbildung 4:

Karte der Besatzungszonen in Deutschland
Besatzungszonen von 1945-1949

 

 

 

Internet-Quelle [15]

Die nationale Identität Frankreichs ist mithin nicht nur europäisiert worden, sondern diese Europäisierung ist organisch mit dem Streben nach Sicherheit vor Deutschland verbunden. Dies lässt sich bis auf den heutigen Tag und besonders eindrucksvoll im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit nachvollziehen. Gerade die Teilung Deutschlands hat für Frankreich das Einschwenken auf ein Konzept der Integration Deutschlands erleichtert, so dass es nicht verwundern konnte, dass das Ende der deutschen Teilung Frankreich zu einer Überprüfung und Anpassung seiner Integrationspolitik veranlasste. Trotz mancher aktuellen Irritation bleibt festzuhalten, dass Frankreich nach 1945 eine entscheidende Kehrtwendung vollzogen hat, indem es sich auf die Einbindung Deutschlands einließ und nicht mehr auf Demütigung des Nachbarn wie 1918 oder auf dessen Zerstückelung wie am Ende des Dreißigjährigen Krieges setzte.