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'Eine kulturelle Identität wiedererlangen'
 
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Eine kulturelle Identität wiedererlangen

Eryck de Rubercy: Es wird immer gesagt, Europa spiele sich auf politischer und wirtschaftlicher Ebene ab, ohne dass es eine Entsprechung auf kultureller und intellektueller Ebene gäbe. Kann die Politik mit der Ernennung eines Kulturministers in Deutschland in gleichem Maße wie in Frankreich auf kultureller Ebene stattfinden?
   
Brigitte Sauzay: Es handelt sich in Deutschland um einen Versuch, der exakt in die Zeit von 1998 fällt, als Deutschland anfing, etwas anderes sein zu wollen, als eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Deutschland wollte damals ein vollberechtigter Akteur auf diplomatischem Parkett sein. Das haben wir erlebt bei der Haltung, die es zur Kosovo-Frage und zu Afghanistan eingenommen hat. Das war das erste Mal, dass Deutschland an militärischen Operationen teilgenommen und gesagt hat: " Wenn wir dieselben Rechte wie die anderen haben wollen, müssen wir dieselben Pflichten übernehmen." Begleitend, sagen wir lieber parallel zu dieser diplomatischen Identität wollte Deutschland auch eine kulturelle Identität wiedererlangen. Zu diesem Zeitpunkt fingen die deutschen Kulturminister an zu sagen, dass Goethe kein hessischer und auch kein Frankfurter Dichter, sondern ein deutscher Dichter gewesen sei. So wurde vor kurzem die Bundeskulturstiftung gegründet, die den deutschen Kulturaustausch fördern soll. Nur hat der Minister große Probleme mit den Bundesländern und vor allem mit den wichtigen Fernsehkanälen, da er natürlich auch für die Medien zuständig sein soll, aber in Deutschland hängen die Medien von den Ländern ab. 
   
Eryck de Rubercy: Ist allein das Wort Europa die Antwort auf die Frage, worin der nationale Vorteil aus einer gemeinsamen kulturellen Investition besteht?
   
Brigitte Sauzay: Ja, je nachdem, was man unter diesem Wort versteht. Wenn Europa Brüssel ist mit seinen Verordnungen über die Käsesorten, dann natürlich nicht; aber wenn Europa beispielsweise bedeutet, ein europäisches Kino zu haben, dann ja. In dieser Hinsicht habe ich mich stark dafür eingesetzt, dass die Verbindungen zwischen dem europäischen und dem französischen Kino ausgebaut werden. So habe ich zur Gründung einer deutsch-französischen Filmakademie in Berlin beigetragen. Dabei wurde ich von französischen Filmkreisen unterstützt, die sich für Deutschland interessieren, weil sie sich sagen, dass sie nicht unendlich lange überleben können, wenn sie nicht stärker in die Breite gehen. Nun, die Breite kann lediglich Europa bedeuten, mit Verbündeten. Mit dieser Zielvorstellung habe ich also die Akademie gegründet, die nun zusammentritt und themenbezogene Seminare abhält. Ich glaube tatsächlich, dass das Kino dafür da ist, eine gemeinsame europäische Vorstellungswelt zu schaffen. Europa benötigt eine Identität. Eine Identität lebt von Bildern.
   
Eryck de Rubercy: Ihre Bücher versuchen, den Franzosen Deutschland zu erklären. Aber sehen Sie Autoren deutscher Sprache, denen es ebenso gelingt, den Deutschen Frankreich zu erklären?
   
Brigitte Sauzay: In diesem Zusammenhang sind natürlich die großen Vorläufer zu erwähnen wie Friedrich Sieburg, aber nach ihnen gab es sehr gute Leute, die über Frankreich schreiben, wie Klaus Harpprecht, der sehr lange an dem Kulturmagazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mitgearbeitet hat, oder Ulrich Wickert, der viele Bücher über Frankreich veröffentlicht hat. Diese beiden Namen fallen mir spontan ein aus dem Kreis jener, die als Vermittler gewirkt haben. Frankreich ist für die Deutschen leichter zugänglich als Deutschland für die Franzosen, weil Frankreich ein Urlaubsland ist. Daher besteht nicht so viel Bedarf, Frankreich zu erklären, abgesehen davon, dass Goethe bereits sagte, dass die Deutschen die französischen Weine den Franzosen vorzögen. Der Bedarf, Frankreich den Deutschen zu entschlüsseln, ist weniger groß als umgekehrt. Natürlich muss hinzugefügt werden, dass die französische Identität heute einfacher ist als die deutsche Identität.

Eryck de Rubercy: Wie sieht Ihre persönliche Bilanz nach jahrelanger Tätigkeit als Beraterin des deutschen Bundeskanzlers aus, wie steht es mit der Förderung des Dialogs zwischen der französischen und deutschen Gesellschaft, und welche Ziele haben Sie heute? 
   
Brigitte Sauzay: Das war tatsächlich eine der Aufgaben, die mir der Kanzler übertragen hatte. Nun, es ist immer schwierig, sich selbst zu beurteilen, aber für mich ist es wichtig, Dinge zu hinterlassen, die bleiben, wenn ich nicht mehr da bin. Ich habe beispielsweise das Voltaire-Programm ins Leben gerufen, das es jungen Franzosen in der fünften Gymnasialklasse ermöglicht, sechs Monate in Deutschland zu verbringen und sogar etwas länger, woraufhin die jungen Deutschen zu ihnen kommen, ohne ein Schuljahr zu verlieren. Das nationale Bildungswesen war einverstanden, Kinder zu reintegrieren, die eine gewisse Zeit in Deutschland verbracht haben. Dieses Programm steht allen Schichten und Familien offen, da Stipendien angeboten werden. Es gibt enorm viel Nachfrage, und wir möchten die Zahl von zweitausend Schülern erreichen, viel weiter können wir nicht gehen. Diese Austäusche haben einen enormen Wirkungsgrad, weil ein deutscher Schüler, der sechs Monate in einer französischen Schule ist, Einfluss in der Gastklasse hat und umgekehrt. Wenn Sie so jedes Jahr tausend Deutsche und tausend Franzosen haben, ist das eine wertvolle Erfahrung. Ich habe auch Websites eingerichtet, die vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig unter Mitwirkung von Geschichts-, Deutsch- und Französischlehrern realisiert worden sind. Es handelt sich um eine Site (http://www.deuframt.de [1] ), die nicht nur Schülern offen steht, sondern auch Studenten und Lehrern. Dies ist eine Lösung für das Problem, die Schulbücher einander anzunähern. Traumhaft wäre es jedoch, wenn alle europäischen Schüler ein Jahr hätten, in dem sie einen kleinen Fundus erhalten würden, wie die Deutschen sagen, d. h. eine kleinen gemeinsamen Grundstock, so dass sie zumindest eine Vorstellung oder einen Grundlagentext besitzen, die ihnen vermitteln, dass sie alle Teil einer europäischen Zivilisation und nicht nur Franzosen oder Spanier sind. Das ist eine Idee, von der gesagt wird, dass sie sehr schwer bundesweit Gehör finden wird, bevor sie umgesetzt werden kann. Jedenfalls wird es nicht gelingen, in Deutschland etwas Gemeinsames zu erreichen, weil man mit sechzehn Bundesländern sprechen muss und jedes dieser Länder seine eigenen Vereinbarungen über die Schulbücher trifft. Und da in Frankreich die Verlage alle auch ihre Probleme haben, haben wir schließlich diese Internetlösung gewählt, die es ermöglicht, dass alle Beteiligten des Schulwesens auf ihre Kosten kommen. Außerdem habe ich mich mit Wirtschaft beschäftigt und mit dem Thema Frauen, gemeinsam mit der Ehefrau des Kanzlers. Wir haben auch zum Thema Bioethik gearbeitet, schließlich im Bereich Kino, wie ich Ihnen gesagt habe. Ich glaube, es ist mir gelungen, alle diese Gesellschaftskreise zu erreichen. 
   
Eryck de Rubercy: Welche Bedeutung haben Sie den Feierlichkeiten zu Beginn des Jahres 2003 zugemessen, als der 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages begangen wurde?
   
Brigitte Sauzay: Es wurde versucht, die Zivilgesellschaft daran teilhaben zu lassen. Zu diesem Zweck habe ich zweitausend Briefe an Großunternehmen und an alle Verbände der Einzelhändler geschickt mit der Bitte, zu diesem Anlass die Schaufenster entsprechend zu dekorieren. Der 40. Jahrestag hat in Erinnerung gerufen, dass der Vertrag als Gerüst für den Aufbau Europas gedient hat. Wenn man ihn erneut liest, stellt man übrigens fest, dass er nicht sehr viel Substanz hat, sondern sehr formell ist. Dass er Formen verlangt, die mit Substanz gefüllt werden müssen. Er fordert, dass regelmäßige Treffen stattfinden, und legt die dazwischen liegenden Fristen fest. Ich denke, dass diese Pflicht, sich zu treffen, zu der Pflicht der zwischenstaatlichen Arbeit geführt hat. Ohne den Wunsch von François Mitterrand und Helmut Kohl, den militärischen Teil des Abkommens 1983 wieder zu beleben, gäbe es heute sicher kein Eurocorps. Die Menschen sollten tatsächlich verstehen (und dieses Ziel wurde bei den Feierlichkeiten des 40. Jahrestages angestrebt), dass der Elysée-Vertrag trotz seines bescheidenen Inhalts das Gerüst war, mit dessen Hilfe Europa aufgebaut worden ist: bis hin zum Euro und somit zur Wiedervereinigung Europas und bis hin zur Existenz einer europäischen Kultur in einer globalisierten Welt.