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'Interessen, Werte und Aktionsmodalitäten'
 
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Interessen, Werte und Aktionsmodalitäten

Um die Außenpolitik eines Staates analysieren zu können, bietet sich nach wie vor das Konzept der nationalen Interessen an. Man muss freilich behutsam damit umgehen und sie nicht etwa als quasi-ontologische Größe ins Spiel bringen wollen. Nationale Interessen ergeben sich als Synthese verschiedener gesellschaftlicher Interessen nach einem gegenseitigen Abwägungs- und Abschleifprozess, dessen Regeln und Verlaufsformen von der Staatsform und der politischen Kultur abhängen. Langfristig wirkende und deswegen gerne "objektiv" genannte Faktoren wie die Größe und geographische Lage, der Reichtum an Bodenschätzen oder ihr Fehlen, die ethnisch-kulturelle Homogenität oder Heterogenität der Bevölkerung, ihre demographische Struktur und andere stabilisieren nationale Interessen. Das schließt aber überhaupt nicht aus, dass sich auch unterschiedliche Interessen und Strategien zu ihrer Durchsetzung auf der Grundlage solcher "objektiver" Faktoren ergeben können, ganz zu schweigen von den verschiedenen Partialinteressen, die im Anspruch auf das Etikett nationale Interessen konkurrieren. Man kann übrigens, statt von Interessen zu reden, auch eine andere Terminologie wählen und Werte in den Mittelpunkt der Analyse stellen, ohne dass man zu einem wesentlich anderen Ergebnis kommt.

Seit ihrer Gründung verfolgte die Bundesrepublik Deutschland das Interesse der Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 und unter der Bedingung, dass sie sich ohne Gewalt und als demokratischer Prozess abspielt. Auf der gleichen hohen Prioritäts-Ebene waren die doppelte Westintegration (europäische und transatlantische Dimension) und der Schutz vor der Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten, einschließlich der DDR, sowie der Wiederaufbau und die Etablierung einer Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten hervorbringenden Volkswirtschaft mittels der Sozialen Marktwirtschaft angesiedelt.

Wenn es der deutschen Außenpolitik um die Durchsetzung bestimmter nationaler Interessen ging, so darf dabei nicht übersehen werden, dass diesen Interessen auch immer bestimmte Werte zugeordnet waren. Der Wertekanon im ersten Teil des Grundgesetzes gilt, was häufig übersehen wird, nicht nur für die Innen-, sondern auch für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Entsprechend ging (und geht) es nicht um Interessenpolitik unter völliger Absehung von den dazu eingesetzten Mitteln und Methoden, was in ein wenig unpräziser Terminologie häufig als Machtpolitik bezeichnet wird, vielmehr um Aktionsmodalitäten, die durch die Adjektive kooperativ, multilateral, gewaltmindernd gekennzeichnet sind. Dies ist treffend im Titel der großen Studie über die deutsche Außenpolitik von 1945 bis 2000 aus der Feder von Helga Haftendorn ausgedrückt: Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung. Andere Begriffe, die diesen Sachverhalt benennen sollen, bezeichnen Deutschland etwa als Zivilmacht oder als Handelsstaat.

Einer der Hauptgründe für diese Ausgestaltung deutscher Außenpolitik liegt in der Vergangenheit. Die These ist nicht gewagt: Die nationalsozialistische Vergangenheit und die Erinnerung an die Verbrechen, die von einem deutschen Staat und im Namen der Deutschen begangen wurden, haben bewirkt, dass nach 1945 deutsche Politik, innere wie auswärtige, sich nicht erlauben konnte, auch nur in die Nähe der Fußstapfen des Dritten Reiches zu kommen. Was am Anfang als octroi der Siegermächte mit re-education und überwachter Souveränität begann, wurde in der Bundesrepublik Deutschland erstaunlich rasch politisch internalisiert. Seither wirkt dieser Teil der deutschen Geschichte (1933-1945) nicht als Behinderung für deutsche Politik, vielmehr als negativer Orientierungspunkt. Das hat sich auch nach der Vereinigung nicht geändert.

Schon unmittelbar vor der Vereinigung Deutschlands, in den Jahren seither immer einmal wieder, konnte man Deutschland-skeptische bis Deutschland-kritische Stimmen im Ausland, aber auch im eigenen Land, vernehmen, die der Befürchtung Ausdruck gaben, Deutschland würde nunmehr seine außenpolitischen Interessen markiger, selbstbewusster, rücksichtsloser verfolgen, würde auf einige der traditionellen Wertbindungen zugunsten eines nationalen Egoismus verzichten und den Stil und die Aktionsmodalitäten seiner auswärtigen Politik verändern. Es gab in der Tat in den frühen neunziger Jahren eine Debatte in Deutschland über die Frage, ob jene oben angesprochene Selbstbeschränkung, die von anderen abschätzig als Machtvergessenheit bezeichnet wurde, nicht modifiziert werden müsste. Die Frage war und bleibt bis heute, wie weit man dabei gehen darf. Deutschland steht ja der Herausforderung gegenüber, sowohl im europäischen Kontext als auch weltpolitisch "mehr Verantwortung" zu übernehmen. Mit diesem euphemistischen Begriff wird die Erwartung umschrieben, Deutschland müsse mehr Führungs- und Ordnungsleistungen für das internationale System erbringen. Solche Leistungen kosten materielle Ressourcen, aber nicht selten auch politische Sympathien. Andererseits nutzen sie nicht nur dem internationalen System, sondern auch der (Mit-)Ordnungsmacht selbst, wenngleich sich solcher Nutzen zuweilen erst in längerer Perspektive erkennbar niederschlägt.

Zwölf Jahre nach der Vereinigung Deutschlands kann man feststellen, dass sich das Gefüge der nationalen Interessen und Werte, aber auch die Aktionsmodalitäten in der deutschen Außenpolitik wenig verändert haben. Die Übernahme von "mehr Verantwortung", etwa in zahlreichen Friedensmissionen, hat jedenfalls keineswegs zu einer "Militarisierung" der Außen- und Sicherheitspolitik geführt. Nach wie vor spielen die Menschenrechte eine wichtige Rolle in der Modellierung deutscher Außen- und Entwicklungspolitik. Der Multilateralismus wird von keinem anderen westlichen Land, vielleicht mit der Ausnahme Kanadas, so eindeutig als außenpolitisches Handlungsprinzip allen anderen vorgezogen wie in Deutschland.

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