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'Der modernere Interventionsstaat in Deutschland oder Frankreich'
 
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Der modernere Interventionsstaat in Deutschland oder Frankreich

Mit dem Thema Interventionsstaat sind vielfältige Fragen verbunden: die staatlichen Sozialversicherungen ebenso wie die Wirtschaftsplanung, die Rolle des Staates in den Tarifbeziehungen ebenso wie die Bildungspolitik, die Stadtplanung ebenso wie die Wohnungspolitik, das Verhältnis des Staats zu den Intellektuellen ebenso wie zu den intermediären Organisationen. Auch dieser französisch deutsche Unterschied gehört in den Rahmen europäischer Gemeinsamkeiten der frühneuzeitlichen Entwicklung des Staates, der staatlichen Bürokratie und der öffentlichen Intervention auf der staatlichen Ebene ebenso wie auf der städtischen Ebene, aber auch der Opposition der Bürger gegen diese Staatsintervention vor allem in der Form der Bürger und Menschenrechte und in der Form eines zentralen Parlaments. Im Rahmen dieser europäischen Gemeinsamkeiten entwickelten sich Unterschiede, die sich allerdings im Verlauf der vergangenen 200 Jahre grundlegend wandelten.

Bismarck und die staatlichen Sozialversicherungen

  • 1883 Krankenversicherungsgesetz mit Versicherungspflicht für fast alle gewerblichen Arbeitnehmer: Errichtung von Kassen; Gewährung von Krankenpflege, Krankengeld, Wochenhilfe, Sterbegeld, Familienhilfe; Beiträge: Arbeitnehmer 2/3, Arbeitgeber 1/3
  • 1884 Unfallversicherungsgesetz: Schutz bei Arbeits- und Weg-Unfällen und bei Berufskrankheiten; Träger Berufsgenossenschaften und Gemeindeversicherungsverbände; Mittelaufbringung durch die Arbeitgeber
  • 1889 Invaliditäts- und Altersversicherung mit Versicherungspflicht für alle Arbeitnehmer: Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrente vom 70. Lebensjahr an; Beiträge zu gleichen Anteilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern; Reichszuschüsse sind vorgesehen
  • 1911 Reichsversicherungsgesetz für Angestellte: Beiträge je zur Hälfte durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber

(Quelle: dialog-frieden-fairness.de/3-geschichtsbits/
histo-surfing/5-neuzeit2/5-2-nationalstaatsgruendungen/
5-2-2-7-d-kaiserreich-sozialgesetzgebung.htm, inaktiv, 08.08.2003)

Im 19. Jh. und im frühen 20. Jh. intervenierte der Staat in Deutschland eher stärker als in Frankreich. Die staatliche soziale Sicherung wurde mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung weit früher eingeführt. Die öffentliche Hygiene wurde stärker staatlich geregelt, die Expansion der Städte, nicht nur der Umbau der Innenstädte, eingehender geplant und dabei weniger Rücksicht auf Grundeigentümer genommen. Die Bildungsinstitutionen wurden im Allgemeinen vom Staat großzügiger finanziert, Berufsschulen ebenso wie Hochschulen. Der deutsche Staat wirkte indirekt auch durch seine enge Verbindung mit der protestantischen Kirche in die Gesellschaft hinein und war von einer Trennung von Staat und Kirche [1] wie in Frankreich seit 1905 weit entfernt.

Nach der Revolution von 1918/19 [2] griff der Staat auch in die Tarifbeziehungen und in den Wohnungsbau weit stärker ein als in Frankreich. Schon vor 1914 entwickelte sich in Deutschland auch ein großes Netzwerk von Interessenverbänden innerhalb des Interventionsstaates. Die Gründe für die massivere Staatsintervention in Deutschland lagen teils in dem Fehlen des liberalen Erbes der frühen Französischen Revolution, teils in der größeren Krisenanfälligkeit und geringeren Macht des deutschen politischen Liberalismus im späten 19. und frühen 20. Jh., teils auch in der geringeren Skepsis der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber der Staatsintervention, teils in dem weit dramatischeren sozialen Wandel in Deutschland, der mehr staatliche Intervention herausforderte. Nur in der Bildungs und Wissenschaftspolitik war der französische Staat in Frankreich ähnlich interventionistisch wie in Deutschland, vor allem weil er über die Schulpolitik die Idee und Form der Republik in der Gesellschaft gegen die kirchlichen und monarchischen Milieus durchzusetzen versuchte. Die Unterschiede in der Staatsintervention eskalierten schließlich in den 1930er Jahren, als sich die auf die Spitze getriebene Staatsintervention der NS Diktatur und die der liberalen späten III. Republik gegenüberstanden. [3]

(Quelle: 195.185.214.165/europa_kommt/index.html, inaktiv, 08.08.2003)

Nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrte sich dieser französisch deutsche Unterschied in das Gegenteil. Die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung Frankreichs, die durch die Niederlage von 1940 evident geworden war, zwang zu einer stärkeren Staatsintervention. Die wirtschaftliche planification [4] , nicht zu verwechseln mit der sozialistischen Planwirtschaft, die Einrichtung eines modernen Sozialstaats, der Anschub des Wohnungsbaus, der Aufbau eines modernen Verkehrssystems, die Ausweitung des Bildungssystems, die Planung der Expansion der Städte, in jüngerer Zeit auch die Kulturpolitik wurden die spektakulären Felder des französischen Interventionsstaats.

Die "Planification", eine Art indikative Planwirtschaft, bildet seit dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage der französischen Wirtschaftspolitik.







(Quelle: plan.gouv.fr/historique/Allocutions/colloque.html, inaktiv, 08.08.2003)

Frankreich wurde neben Großbritannien und Schweden zu einem der Symbole des europäischen Interventionsstaats und blieb es auch stärker als sein Nachbar jenseits des Ärmelkanals. Diese massive Staatsintervention verband sich im französischen Fall mit einer besondersartigen Öffentlichkeit, die oft als exception française bezeichnet wird. Staatliche Entscheidungen wurden nicht durch lange öffentliche Diskussionen mit intermediären Organisationen, Interessenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen, sondern oft in engen Zirkeln von Politikern und Experten gefällt und trafen dann nicht selten auf eine stark entwickelte Oppositionskultur von Intellektuellen und von kurzfristigen, aber riesigen Massendemonstrationen. Dieser Oppositionskultur hatten sich französische Regierungen des öfteren zu beugen.

Ludwig Ehrhard (1897-1977) gilt als der Vater der sozialen Marktwirtschaft.






(Quelle Bild "Ludwig Erhard" [5] )

Deutschland dagegen ging zwei ganz andere Wege. Im westlichen Teil, in der alten Bundesrepublik, wurde die Staatsintervention eher zurückgenommen. Das wurde sichtbar vor allem an der Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft [6] und an der Abkehr von planwirtschaftlichen Konzepten, aber auch am Abbau der staatlichen Wohnungswirtschaft, an der Autonomie der Tarifbeziehungen, an der schon erwähnten Familienpolitik, an der Übertragung von sozialen Aufgaben an die Kirchen, an der Organisation der öffentlichen Medien. Aber auch der alte autoritäre, von oben herab entscheidende Staat löste sich mehr und mehr auf. Staatliche Entscheidungen wurden häufig in langen öffentlichen Diskussionen mit intermediären Instanzen, mit Parteien, Verbänden und Experten in der Öffentlichkeit vorbereitet. Der Föderalismus [7] , der der jeweiligen politischen Opposition über die Länderregierungen mehr Macht gab als in Frankreich, verstärkte diese Tendenz zu einer oft langen Konsenssuche in der Öffentlichkeit. Diese vielfältige Zurücknahme des Interventionsstaats in der alten Bundesrepublik war eine Reaktion auf den massiven Interventionsstaat während des NS Regimes und in der DDR, auch auf die Staatsintervention der gescheiterten Weimarer Republik, und ist außerdem vor dem Hintergrund des Nachkriegseinflusses der USA zu betrachten.

Allerdings milderte sich dieser neue französisch westdeutsche Unterschied seit den 1960er Jahren allmählich wieder ab und der Interventionsstaat wurde in Frankreich und der alten Bundesrepublik ähnlicher als je zuvor in den letzten 200 Jahren. Einerseits baute die französische Regierung mit dem Fortschreiten der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung Frankreichs die planification immer mehr ab. Andererseits nahm vor allem während der wirtschaftlichen Prosperitätsphase von 1948 1973 in beiden Ländern das Gewicht des Sozialstaats [8] immer mehr zu. Die Sozialstaatsausgaben stiegen in Frankreich wie in der alten Bundesrepublik in ungeahnte Höhen, ähnlich wie sonst in Westeuropa. Auch der Gegenprozeß, die Tendenz zur Deregulierung seit den 1980er Jahren, verlief in beiden Ländern ähnlich.

In der DDR werden nach ihrer Gründung im Jahre 1949 die Eigentumsformen und die Wirtschaftsordnung rigoros nach sowjetischem Vorbild verändert. Das Werbeplakat aus dem Jahre 1952 für den Ersten Fünfjahrplan zeigt Walter Ulbricht inmitten von Arbeitern. Die Schwerindustrie steht im Mittelpunkt des Ersten Fünfjahrplans und der staatlichen Propaganda, die Konsumgüterindustrie wird dagegen vernachlässigt. (Besitz: Haus der Geschichte, Bonn, EB-Nr.: 1992/10/580)






 

(Quelle des Wahlplakats [9] )

Den anderen Weg verfolgte die DDR. Weit stärker als in Frankreich setzte sie eine zentrale Wirtschaftsplanung, eine umfassende Intervention des Staates in die Gesellschaft und eine Durchdringung der Gesellschaft durch, mit dem Ziel ihres völligen Umbaus, der Beseitigung der Marktwirtschaft und des Wirtschaftsbürgertums. Nach heftigen Konflikten während der 1950er Jahre blieben nur noch wenige, begrenzte, autonome Räume der Kirchen übrig. Menschen und Bürgerrechte waren nicht gesichert und wurden massiv verletzt. Eine politische Öffentlichkeit entwickelte sich weder in der französischen noch in der bundesrepublikanischen Form. Der Widerstand gegen diese Staatsintervention entfaltete sich nicht in öffentlichen Formen. Mit dem Zusammenbruch der DDR 1989/90 setzten sich die Tendenzen zur französisch deutschen Konvergenz der Staatsintervention auch in Ostdeutschland durch.