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'Zur Abgrenzung des Kontinents'
 
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Zur Abgrenzung des Kontinents

Wie weit reicht das Europa des heutigen Geographieunterrichts? Die Nord-, West- und Südgrenze gelten als unproblematisch. „Die Kontinente der Erde sind meist von Ozeanen und Meeren umgeben und deutlich als Landmasse abgegrenzt. Diese Merkmale treffen für Europa im Westen, Norden und Süden zu“ (HuW/B7 1999: 9). „Die Küsten sind natürliche Grenzen“ (MuR/B7 1991: 8). Wären sie es tatsächlich, so wäre allerdings jede noch so kleine Insel ein eigener Kontinent, was vermutlich so manchem Engländer noch immer gefallen würde. Bezöge man den Kontinentalschelf in die Definition eines Kontinents ein, so ließe sich zwar für viele Inseln das Zugehörigkeitsproblem lösen, auch England wäre nun ein Teil Europas, doch bliebe eine Restproblematik erhalten, da z.B. Island [1] , die Färöer [2] , Jan Mayen [3] , Franz-Josef-Land [4] , Spitzbergen [5] , die Azoren [6] und Madeira [7] nicht auf dem Kontinentalschelf liegen. Probleme schafft auch die ägäische Inselflur [8] . Denn manche griechische Insel, die auf dem kleinasiatischen Schelf [9] liegt, müsste eigentlich an Asien fallen, so dass Griechenland wie die Türkei auf zwei Kontinenten läge. Hier wird jedoch stillschweigend die politische Zugehörigkeit statt eines physischen Kriteriums zugrundegelegt. Ähnlich verfuhr schon die ältere Länderkunde, auch wenn sie physische Hilfsargumente aufbot. So stellte sie z.B. entsprechend den damaligen politischen Verhältnissen Rhodos [10] und die Südlichen Sporaden [11] zu Kleinasien.

Europas äußere Grenzen und innere Trennungslinien




(Quelle: verändert nach T. Petersen: Europa – Idee und Wirklichkeit in der Geschichte. Bamberg 1998)

Wie die Schulbücher, so gehen auch andere Unterrichts-Materialien von „natürlichen Grenzen“ Europas im Westen, Norden und Süden aus: dem Atlantik [12] , dem Europäischen Nordmeer [13] und dem Mittelmeer [14] (Müller/Stähle 2002: 5). In einem von Neumann-Mayer konstruierten Kindergespräch kommt heraus: Im Norden, Westen und Süden sind die Grenzen „leicht“ zu finden (2002: 4). Dabei sind alle Grenzen Konvention und nicht von Natur aus einfach da. Nimmt man z.B. die Azoren zu Europa hinzu, so liegt Island nicht mehr am „weitesten im Westen“, wie im Gespräch behauptet, und auch die Grenze zwischen Asien und Europa, die „mitten durch Istanbul [15] geht“, tut dies nur, wenn man sich darauf verständigt hat, dass der Bosporus die beiden Kontinente trennt.

Meist wird die doppelte Kontinentlage der Türkei in den Schulbüchern nur nüchtern registriert. Eines (HuW/B2 1991) lässt sie jedoch durch reisende Jugendliche bestätigen. Auf einem Bahnsteig in Köln stehend, geben sie zum besten: „Am Gleis gegenüber steht der Istanbul-Expreß bereit, ein Reisezug, der bis zum südöstlichsten Rand Europas fährt. ‘Wir können ja noch umsteigen und in meine Heimat fahren’, scherzt Yildirai. ‘Du kommst doch aus Asien?’ fragt Bettina. ‘Nein, mein Heimatdorf liegt in der Nähe von Edirne im europäischen Teil der Türkei, dort ist der letzte große Haltebahnhof vor Istanbul’“ (12). Ihr „Anteil an zwei Konti-nenten“, angeblich schon auf einer Karte festzustellen, wird als „ein Spiegel der unterschiedlichen Entwicklung in diesem Land“ (152) betrachtet. Ein Ausschluss des thrakischen Teils [16] der Türkei aus dem konventionellen Europa ist in den Schulbüchern nicht zu beobachten, sieht man einmal von vermutlichen Versehen bei einigen Übersichtskarten ab (G2 1993: 7 (2 [17] ); G/BR6 2002: 146 (3 [18] )).

Die Ostgrenze Europas – ein Problem zahlreicher Geographiebücher








(Quelle: HuW2 1994: 9)

Im Gegensatz zur Türkei sahen Experten des Europarates schon Anfang der 1960er Jahre Zypern [19] als europäischen Staat an (Sattler 1971: 16), doch übernahmen die Geographiebücher diese Empfehlung nicht. Neuerdings bahnt sich jedoch angesichts der EU-Perspektive Zyperns für 2004 ein Wandel an (G/B7 1998: vorderer Einband; G/BR6 2002: 11 (4 [20] )). Kurioserweise ist bei Neumann-Mayer allerdings nur der griechische Teil der Insel klar als zu Europa gehörig ausgewiesen (2002: 3, 4, 6, 14).

Ein besonderes Problem stellte für die Schulbuchautoren immer die Ostgrenze dar. Schon „auf der Weltkarte“ sehe man, „dass Europa eigentlich kein selbständiger Erdteil“ (MuR-GE/B7 1997: 8) sei. „In seiner ganzen Breite“ (G2 1993: 6) gehe er ohne „natürliche Grenze“ (MuR/B8 1993: 9) „direkt“ in Asien „über“(HuW/2 1994: 9). Die Autoren sind sich daher einig, „das kleine Europa“ ist „nichts anderes als eine Halbinsel Asiens“ (G3 1994: 20), „nur“ seine „westliche Verlängerung“ (MuR/B7 1991: 8), und bildet zusammen mit ihm „eine riesige Landmasse“ (T/B7 1994: 5). Häufig folgt daher der Hinweis, dass man deshalb von „Eurasien“ spreche (5 [21] ).

Viele Bücher ziehen die Grenze Europas vom Uralgebirge [22] über den Ural-Fluss [23] , das Kaspische Meer [24] , die Manytschniederung [25] und das Asowsche Meer [26]








(Quelle: HuW2, 1994, S, 9)

Im Gegensatz zu den anderen Grenzen gilt die Ostgrenze Europas als „willkürlich“ (T 1991: 6) bzw. „von Menschen festgelegt“ (MuR/B7 1991: 8); manche der untersuchten Bücher deuten den konsensuellen Charakter der Ostgrenze auch nur an (HuW/2 1994: 9; HuW/B7 1999: 9; T/B7 1994: 5). Dass 1958 die Geographische Gesellschaft der Sowjetunion und etwas später die bereits zitierten Experten des Europarates (vgl. Sattler 1971: 17) Empfehlungen ausgesprochen haben, bleibt unerwähnt. Beide entscheiden sich übrigens nicht für den Ural-Fluss, sondern die Emba als Grenzfluss. Man findet letztere im Erdkunde-Schulbuch der DDR (G6 1989: 7) und in einem weiteren Schulbuch desselben Verlages aus jüngster Zeit (G/BR6 2002: 9). Dass die Abgrenzung Uralgebirge – Emba heute die „gebräuchlichste“ sei, wie darin behauptet wird, dürfte jedoch falsch sein. Die meisten Bücher nennen: „Uralgebirge – Ural-Fluss – Kaspisches Meer – Manytschniederung – Asowsches Meer“ (T/B7 1994: 5), doch gilt diese Grenze keineswegs „seit dem 18. Jahrhundert“ (Volkmann 1993: 17) als unumstritten. Manche Bücher beschränken sich auch auf die Nennung des Ural-Gebirges (MuR/GE/B5/6 1995: 12), andere bevorzugen im Südosten statt der Manytsch-Niederung den „Kaukasus“ (OEu 1991: 77) bzw. dessen „Nordrand“ (EK/Bay7 1992: 6) (6 [27] ). Manchmal treten sogar in ein und demselben Buch bzw. der entsprechenden Buch-Reihe verschiedene Grenzziehungen auf (z.B. G2 1993: 9, 130; G3 1994: 21) (7 [28] ).

Die Völkertafel Europas – „Kurze Beschreibung der in Europa befintlichen Völkern und Ihren Aigenschaften", Ölgemälde aus der Steiermark, frühes 18. Jh., Original im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien.




(Quelle: www.jungeforschung.de/europa-bilder/voelkertafel.htm)

Nur scheinbar differenzierter geht ein Oberstufenband (MuR/GEu 1995: 12) bei der Abgrenzung Europas vor. Sie könne „auf vier Arten“ geschehen: eine historisch überkommene, eine auf physisch-geographischen Kriterien beruhende, eine durch Vereinbarung festgelegte und eine inhaltlich bestimmte. Letztere wiederum könne auf eine Selbstdefinition durch Europäer oder die Zuschreibung von Außenstehenden zurückgehen, aber auch kriterienorientiert sein. Doch statt nun verschiedene „Europas“ zu präsentieren, wird auf die übliche Abgrenzung des Kontinents zurückgegriffen, die „Elemente aus allen vier Möglichkeiten“ enthalte, was die Schwierigkeit der Definition ausmache. Realiter sei allerdings nur „die Ostgrenze umstritten“. Als historisch überkommen gelten für sie das Ural-Gebirge und der Ural-Fluss, die zugleich als physisch-geographisch „erkennbare Grenzen“ präsentiert werden. Wenig später wird dies für den Ural-Fluss wieder relativiert. Als vereinbart gilt die Grenze zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer, hier gebe es drei Möglichkeiten: die Manytschniederung, den Kaukasus oder nur den Nordrand des Gebirges.

Gegen diese Ausführungen ist kritisch vorzubringen: Weder sind Ural-Gebirge und Ural-Fluss alternativlos historisch überkommen, noch war und ist ihre Qualität als natürliche Grenze unumstritten. Vielmehr setzte sich auch für das Gebirge seit dem 19. Jahrhundert allgemein das Gegenteil durch. Ferner beruhen natürlich nicht nur die drei Varianten der Südostgrenze auf Vereinbarung, so als ergäben sich alle übrigen Grenzen des Kontinents von selbst. Die Nennung des Kaukasus lässt überdies offen, ob die Wasserscheide oder der Südrand gemeint ist. Und last not least erweist sich das (merkwürdige) Kriterium der „inhaltlichen“ Abgrenzung als unsinnig. Warum sollte eine physisch-geographische Begrenzung weniger inhaltlich sein als eine kulturelle, die hier mit „inhaltlich“ gemeint ist?

Bleibt als Petitesse, die in den Schulbüchern keine Berücksichtigung findet, noch nachzutragen, dass auch Spanien – wie Russland, Kasachstan, und die Türkei – mit seinen afrikanischen Exklaven Ceuta [29] und Melilla [30] nach der konventionellen Abgrenzung Europas Anteil an zwei Kontinenten hat.