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Schluss

Bedarf es aber überhaupt einer tieferen Grundierung des politischen Europas mit Sinn durch die Konstruktion einer „europäischen Identität“? Der Jurist Ulrich Haltern meint, die Union könne „auf Erzählungen von geteilten Werten und historisch verwurzelter Gemeinschaftlichkeit verzichten und statt dessen die Psychologie des Bürgers ernst nehmen“, die keine „Anker und Wurzeln“ benötige, sondern ein funktionierendes Konsumenten-Gemeinwesen, das sich permanent verändere und der „flüchtigen und vielgestaltigen“ Identität des Bürgers entspreche. Für die EU bestehe „das postmoderne Problem der Identität nicht darin, eine Identität zu konstruieren und sie fest und stabil zu halten, sondern darin, die Festlegung zu vermeiden und sich die Optionen offenzuhalten.“ Die Operationsbasis der Union sei ihre Rationalität, die dem Bürger als Konsumenten diene; wer dagegen nach einer politischen Imagination à la Nationalstaat suche, mache sich „eher lächerlich“ (287; Herv. i.O.). Identitätskrisen, wie sie von Gegnern einer weiteren Vergrößerung der EU befürchtet werden, wären dann hinfällig, und auch die Türkei bräuchte keine zu befürchten, weil sie sich keine europäische Identität zwanghaft zuschreiben müsste.

Für den Historiker Christian Geulen liegt dagegen die entscheidende Frage irgendwo dazwischen: Was hält „Europas nationale, regionale, kulturelle, soziale oder religiöse Partikularitäten“ zusammen „ohne sie aufzulösen – diesseits des rein Ökonomischen und jenseits projizierter Quasi-Gemeinsamkeiten“; denn wer sich „zu Recht gegen eine Nivellierung europäischer Pluralität durch Wirtschaftsinteressen“ wehre, könne „die Nivellierung nicht auf kultureller oder politischer Ebene einfordern.“ Das „Gespenst des Nationalismus“ müsse keineswegs erneut sein „Janus-Haupt [1] erheben“ (2002: 19).

Will der Geographieunterricht zu Europa „zeitgemäß“ (vgl. Fassmann 2002: 8) sein, muss er sich auf solche fachübergreifenden Diskussionen einlassen und sich – wie übrigens der Historiker auch (vgl. Burgdorf 2004) – davon verabschieden, eine eindeutige Antwort auf die Frage nach den Grenzen Europas geben zu können; denn, wie es der Journalist Michael Thumann griffig formuliert: „Europas Grenze entsteht nicht in Erdkundestunden, sondern in Verträgen“ (Thumann 2004: 1). Folglich ist es auch unsinnig, in empirischen Erhebungen zu überprüfen, ob einzelne Staaten von den Schülern/innen ‘richtig’ platziert werden, um gegebenenfalls im Geographieunterricht einer ‘falschen’ Benutzung des Europabegriffs entgegenwirken zu können; denn das ‘richtige’ Europa gibt es nicht – und hat es in der Geographie auch nie gegeben.

Europa in den Grenzen des Neuen Großen Bertelsmann Weltatlas – unter Einschluss der Türkei.

 





 

(Quelle: Neuer Großer Bertelsmann Weltatlas, 2003, S. 21)

Selbst das konventionelle Europa vom Atlantik bis zum Ural, vom Nordkap bis zum Bosporus gerät neuerdings ins Wanken, wie im Neuen Großen Bertelsmann Weltatlas (2003, S. 21, 107, 164, 200) zu sehen. So werden auf der physischen Übersichtskarte zu Europa Anatolien und der Kaukasus (merkwürdigerweise ohne seinen östlichsten Teil) eindeutig und durch die Art der kartographischen Gestaltung auch unmittelbar ins Auge springend als europäisch ausge-wiesen, während sie auf der Übersichtskarte zu Asien (hier die gesamte Kaukasusregion) ebenso klar ein Teil Asiens sind. Der Textteil greift diese Doppelkodierung nicht auf, die Türkei und die Kaukasusstaaten werden unter Asien abgehandelt.