French
German
 
Seite zur Sammlung hinzufügen
'Einschlägige experimentelle Befunde'
 
1 Seite(n) in der Sammlung
 
 
 
 
 

Einschlägige experimentelle Befunde

In England wurden zahlreiche Kinder auf ihr Verständnis von Evidenz, d.h. auf das Verhältnis von historischer Erzählung und vergangener Wirklichkeit, untersucht. Der Untergang des Römischen Reiches war in zwei sehr einfachen Sachtexten einmal auf 476 und einmal auf 1453 datiert (vgl. Lee/ Ashby 2000). Mehrere ähnliche Probedilemmata sind hier nicht darzustellen. Es leuchtet aber unmittelbar ein, dass der Umgang mit solchem scheinbar widersprüchlichen - mindestens aber komplexen und mit Distraktoren gespickten - Material für ein Lernen über Europa äußerst wichtig und einschlägig ist. In der 2. und 5. Klasse hielt die überwältigende Mehrheit (80 %) beide Berichte (476 versus 1453) für unvereinbar, da für sie vergangene Fakten und gegenwärtiger Bericht noch identisch sind. Erst in der 6. und 8. Klasse gibt es einen nennenswerten Anteil (6. Klasse knapp 20 %, 8. Klasse 40 %), der einsieht, dass es eine Frage der Kriterien und der Begriffsbildung ist, ob man das Ende des Weströmischen oder das des Oströmischen Reiches als "Untergang des Römischen Reiches" bezeichnet. Dazu kommt im Übergang eine Gruppe (6. Klasse 30 %, 8. Klasse 25 %), die mit dem alternativen Konzept einer "multiplen Vergangenheit" rechnet (Lee/Ashby 2000: 208). Es ergibt sich ein sechsstufiges Schema, das die Autoren aber vorsichtshalber nicht als "entwicklungslogisch zwingenden Verlauf" interpretieren.

Vergleichbar wichtig ist das Begriffsverständnis. Die Gründung eines Staates - hier Altägypten - war in Italien Kindern der 2. und 3. Klasse noch keineswegs verständlich zu machen (jedenfalls nicht mit den geläufigen Schulbüchern). Auch in der 5. Klasse entwickelten noch zwei Drittel ausgesprochene Fehlkonzeptionen. Erst in der 8. Klasse bekamen fast 70 % den richtigen Begriff mit. Setzt man einen erfundenen modellhaften Fall statt des historisch besonderen (Altägypten) an, dann ändern sich die Quoten nicht wesentlich. Dasselbe gilt übrigens für das Konzept des "Staatszerfalls" (Sezession), wie er zur Zeit der Untersuchung in Jugoslawien, der Tschechoslowakei und der UdSSR gerade ablief. Auch diese Idee wird in der 3. Klasse gar nicht, in der 5. Klasse nur von einer Minorität und in der 8. Klasse knapp mehrheitlich (aber bei weitem nicht perfekt) verstanden (vgl. Berti 1994).

Die Gründung eines Staates (hier Israels im Jahre 1948) oder der Vorgang eines Staatszerfalls (etwa der Sowjetunion) ist Kindern der unteren Klassen nur schwer verständlich zu machen, wie Untersuchungen in Italien gezeigt haben (vgl. Text).

 

(Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/0 [1] ,1518,grossbild-81466-111276,00.html)

 

 

Worin besteht nun die - vielleicht als Durchgang notwendige - "Fehl- oder Alternativkonzeption". Staatseinigung ist zunächst physisches Zusammensiedeln der Dörfer, danach physisches Verbinden durch Straßen und Verkehr und dann erst Zentralmacht durch Verwaltungs-Hierarchie. Bei der "Sezession" finden sich genau dieselben Schritte: "physische Trennung", "physische Trennung mit politischen Aspekten" und "politische Trennung". Anders gesagt, die "Kleinen" können sich abstrakte Beziehungen mit einer symbolischen Hierarchie und lokalen Beauftragten noch nicht vorstellen. Räumliche und sachliche Einheit gehören noch zusammen. Der abstrakte Staatsbegriff - und ähnliche andere Kategorien - werden - z.B. bei der Erörterung der Europäischen Integration - meist als voll verständlich und leicht eingängig vorausgesetzt.

Im Rahmen einer Untersuchung in Spanien wurde die "Entdeckung von Amerika" in interessanter Weise beantwortet. Bis zur 10. Klasse werden fast nur Individuen, kaum Gruppen und Institutionen als Handelnde genannt. Erst bei den Geschichtsstudenten überwiegen bei weitem die Kollektive (vgl. Text).


(Quelle: www.bernhardkeller.de/Unterricht/S1_2_-_LK_Geschichte/s1_2_-_lk_geschichte.html)

Die Frage nach Art und Motiven historisch Handelnder - auch das für das Europathema absolut zentral - wurde in Spanien am Beispiel "Entdeckung von Amerika" in interessanter Weise beantwortet. Bis zur 10. Klasse werden fast nur Individuen, kaum Gruppen und Institutionen als Handelnde genannt. Erst bei den Geschichtsstudenten (nicht den Psychologiestudenten) überwiegen bei weitem die Kollektive. Die "Kleinen" bis zur 10. Klasse nehmen vor allem Neugier und Entdeckerfreude als Ursachen wahr, die "Großen" (besonders die Geschichtsstudenten) meist wirtschaftliche und politische Gründe. Religiöse Instanzen und Antriebe fehlen in allen Altersgruppen, obwohl sie früher sicherlich häufig genannt worden wären (Jacott u.a. 1998). Die bisher geläufigen Sozialisationspraktiken spiegeln sich in diesem Befund zweifellos ebenso wie die größere Abstraktheit von "Kollektiven" (statt Individuen) und "wirtschaftlichen Ursachen" (statt persönlicher Wünsche).

Nach einer britischen Studie zum Thema "Eroberung Britanniens unter Kaiser Claudius" waren im 3. Schuljahr persönliche Wünsche des Claudius ganz dominant, im 6. wurde meist ein (struktureller) Grund genannt. Erst in der 7. Klassenstufe vermochte die (zunächst knappe) Mehrheit zwei oder gar drei Ursachen namhaft zu machen (9. Klassenstufe ca. 72 %) (vgl. Text).

 

 

 

 

(Quelle: faculty.maxwell.syr.edu/gaddis/HST210/Nov18/Default.htm)

Das Resultat wurde in einer - deutlich elaborierteren - britischen Studie zu historischer Kausalität (diesmal zum Thema Eroberung Britanniens unter Kaiser Claudius) völlig repliziert (Lee et al. 1997). Im 3. Schuljahr waren persönliche Wünsche des Claudius ganz dominant, im 6. wurde meist ein (struktureller) Grund genannt. Erst in der 7. Klassenstufe vermochte die (zunächst knappe) Mehrheit zwei oder gar drei Ursachen namhaft zu machen (9. Klassenstufe ca. 72 %). Anders gezählt, sehen die "Kleinen" fast nur persönliche Motive, die "Größeren" (5. und 7. Klasse) nehmen mehrheitlich die Kaiserrolle und -funktion wahr und erst die fast schon Erwachsenen (9. Klasse) schaffen überwiegend (ca. 52 %) eine kausale "Analyse der Situation" (Lee et al. 1997: 239). Vermutlich nehmen wir - nicht nur in England - im Unterricht etwa über die EU-Erweiterung meist an, dass das bereits relativ junge Lernende - und ohne besondere Anleitung - können.