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'Dezentralisierung und Regionalisierung '
 
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Dezentralisierung und Regionalisierung

Kein noch so persistentes staatsorganisatorisches Leitprinzip oder politisches Gebilde hat Anspruch auf Ewigkeit. Auch in der Geschichte Frankreichs gab es immer wieder Versuche, den Zentralismus in Frage zu stellen. Doch erst 1982/83 wurde das umfassende Gesetzeswerk einer Dezentralisierung [1] der politischen und administrativen Strukturen erlassen. Wichtigste Motive waren die wachsende, vor allem finanzielle Überforderung der Zentrale, jedes Detail in der Provinz von Paris aus zu steuern, waren zunehmende sozio-ökonomische und demographische Disparitäten im Raum sowie der drängende Wille nach lokaler demokratischer Partizipation - vgl. das "la France d'en bas", das Premierminister Raffarin [2] 2002 zum privilegierten Ziel seiner Politik gemacht hat - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der europäischen Integration.

Die Gesetze sind durch drei Hauptinhalte [3] gekennzeichnet (vgl. Gruber 1986):

1. Bis 1982 war die région lediglich ein der Zentrale unterstelltes établissement public, konzipiert vor allem für Belange der Raumordnung; auch sie unterstand über den Regionalpräfekt der Zentrale. Nun wurde sie, als dritter Typ neben Gemeinde und Departement, zur eigenständigen Gebietskörperschaft erhoben (anders als jene jedoch nicht mit Verfassungsrang).

2. wurde die sog. tutelle, die direkte zentrale Staatsaufsicht mittels der Präfekten, abgeschafft, d.h. jene können nun nicht mehr per Weisung a priori jede Entscheidung einer Gebietskörperschaft aufheben, sondern nur bei Zweifeln an der Legalität a posteriori eine Rechtskontrolle anordnen.

3. erhalten Departement und Region erstmals eine Exekutive (General- bzw. Regionalrat, von der Bevölkerung direkt gewählt) für bestimmte Kompetenzbereiche, die der Gemeinde werden erweitert. Fortan sollen die eigenständigen Gebietskörperschaften für ihre neuen Aufgaben auch direkt über angemessene Finanzmittel verfügen.

 

Wichtigste Zuständigkeitsbereiche [4]  der Gebietskörperschaften aufgrund der Dezentralisierungsgesetze seit 1982

                                                                
 GemeindeDepartementRegionStaat
BildungBau u. Unterhaltung von GrundschulenBau u. Unterhaltung von Realschulen (Collèges, d.h. Mittelstufe)Bau u. Unterhaltung von Gymnasien (Lycées, d.h. Oberstufe)Programme für Grandes Ecoles u. Universitäten, Bezahlung Lehrkräfte 
Schülertransportinnerhalb der Gemeindeaußerhalb der Städte  
 Soziales und Gesundheit  Beteiligung an Aktivitäten des Departements  Kinder, Familien, Senioren, Behinderte     staatliche Einrichtungen, Drogenhilfe 
 öffentliche Hygiene  Kontrolle 
Fortbildung  Fortbildung, Lehreallgemeine Richtlinien
Planunginterkommunale Entwicklungländliche Infrastrukturgemeinsamer Entwurf des Regionalplans
Kanäle und HäfenFreizeithäfen sekundäre Handelshäfen, FischereihäfenFlusshäfen und Wasserstraßen Häfen von nationaler Bedeutung ("autonome Häfen"), Polizeihäfen
Städtebau, Umwelt und Schutzgüter Flächennutzungs- und Bauleitpläne  Kontrolle 
 Baugenehmigungen  Wanderwege  Regionalparke  Kontrolle, Denkmalschutz, Nationalparks 

Quelle: Nach Brücher 1997, verändert nach Verpeaux, M., Les lois de décentralisation depuis 1982. In: Les collectivités locales en France (1996). Les Notices, La Doc. Française, Paris

 

Rein äußerlich handelt es sich hier um Prozesse, die das Leitprinzip erheblich zu beeinträchtigen scheinen. Umso erstaunlicher ist deshalb, dass ein solcher Umbruch von Staatspräsident und Regierung ausdrücklich gewollt war und die Verabschiedung der Gesetze auffällig reibungslos und schnell vonstatten ging, übrigens ohne nennenswerte demokratische Legitimation (Thoenig 1992, S. 74), wie z.B. durch eine Volksabstimmung. So erhebt sich bereits hier die Frage nach den Motiven und der Echtheit dieser Politik, weist sie doch zahlreiche Schwächen, Unklarheiten und auch Widersprüche auf.

Abbildung 14:

"Paris, Paris - das wird immer nur die Hauptstadt sein"

 

 

 

Quelle: Anonym

Von den drei Staatsgewalten erhalten die Gebietskörperschaften nur einen Teil der Exekutive, nicht aber eine Teilhabe an Judikative und Legislative, denn das käme dem über alles gefürchteten Föderalismus nahe, wäre ohnehin verfassungswidrig. Aber auch in den neuen Kompetenzen behält sich der Staat mittels zahlreicher Ausnahmeklauseln Eingriffsmöglichkeiten vor. Zwischen den drei Ebenen wurde 1983 jegliche hierarchische Verfügungsgewalt untersagt; vielmehr wurden ihnen dezidiert unterschiedliche, meist noch in sich unterteilte Bereiche zugeordnet, mit dem Ziel, eine vertikale Zusammenarbeit und damit jede potenzielle regionale Schwergewichtsbildung gegenüber Paris auszuschließen: z.B. ist beim Bau und Unterhalt der Schulen die Gemeinde für die Grundschulen (écoles primaires) zuständig, das Departement für die Realschulen (collèges), die Region für die Gymnasien (lycées). In der Realität kommt es allerdings zu Überschneidungen der Kompetenzen zwischen allen Ebenen - Koordinator oder Schlichter ist natürlich der Staat. Überdies bleibt er der "wichtigste Akteur im Rahmen regionaler Förderpolitik und ... für alle grundsätzlichen und größeren Entscheidungen im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik allein zuständig" (Neumann / Uterwedde 1997, S. 58). Zugleich konnte der Staat eine Reihe belastender, machtpolitisch aber irrelevanter Aufgaben auf die Gebietskörperschaften abwälzen, u.a. die konfliktträchtige Flurbereinigung. Umgekehrt wurden machttragende Sektoren, wie der Energiebereich, überhaupt nicht einbezogen, nicht einmal erwähnt.

Am deutlichsten wird die Inkonsequenz der Dezentralisierungspolitik in der unzureichenden finanziellen Ausstattung [5] der Gebietskörperschaften. Sie wird zu alledem systematisch erschwert durch komplizierte Mischfinanzierung, unerlaubte Übertragbarkeit von sektorgebundenen Zuweisungen und Sonderregelungen, wie z.B. die Erhebung von (bescheidenen) Lokalsteuern (u.a. aus Führerscheingebühren...) allein durch die Region. Zu Recht nennt Müller-Brandeck-Bocquet die Finanzfrage die "Achillesferse" der gesamten Dezentralisierung (1990, S. 75).

Hinzu kommt das Prinzip, je größer die Gebietskörperschaft, desto niedriger ihr Etat: z.B. hatte die Region Elsass [6] 1998 pro Jahr nur ca. 1250,- FF/Einw. zur Verfügung, die Gemeinde Straßburg dagegen ca. 8500,-FF/Einw. (berechnet nach Kleinschmager 1999). Den Regionen wurden überdies auffällig wenig Kompetenzbereiche übertragen, allein zwei Drittel ihrer Investitionen [7] sind für Bildungswesen und Transport bestimmt, nur 10% für die Wirtschaftsförderung (Berthon 1996, S. 34). Die finanziell gesteuerte Bevormundung zeigt sich nicht zuletzt in den sog. Planverträgen, d.h. gemeinsamen Investitionsprogrammen von jeweils einer Region und dem Staat: 1984-93 speiste letzterer im Durchschnitt einen Anteil von knapp 60% ein (Balme/Bonnet 1995, S. 51). Für die Regionen bedeutet das zusätzliche Mittel, der Rest muss jedoch von ihren mageren Budgets abgezweigt werden - für Projekte, deren Priorität vom Präfekten, also der Zentralregierung bestimmt werden. Auf solche Form staatlicher "Förderung" sind die Regionen angewiesen, auch wegen der Einbindung von EU-Fördermitteln, bei der der Staat kooperieren muss. Letztlich kontrolliert die Zentrale über die Planverträge die Raumordnungspolitik auch auf regionaler Ebene (vgl. Damette / Scheibling 1995; Madiot 1996).

Allen Schwächen zum Trotz konnten die Regionen bereits ein respektables Gewicht und Selbstbewusstsein erlangen. Die neuen Regionalregierungen entwickeln individuelle Aktivitäten und wollen eine eigene Identität schaffen. Gerade die Reformen von 1982/83 haben den Anstoß und die institutionelle Basis für die Artikulierung regionaler Interessen auf EU-Niveau gegeben (Mazey 1994, S. 133; vgl. Neumann /Uterwedde 1997). Allerdings wurde mit der Hinzufügung der Region zu den Gebietskörperschaften unter diesen zusätzliche Konkurrenz, auch Konfliktpotenzial geschaffen, vor allem zwischen Region und Departement. Offiziell bleibt ungeklärt, welches nun das wichtigere Niveau zwischen Gemeinde und Staat ist, faktisch gilt jedoch das Departement - durch seine lange Tradition und Verankerung in der Verfassung ohnehin besser etabliert - als der eigentliche "Sieger" (Douence 1995, S. 12, 16; Madiot 1996, S. 71). Will der Staat Departement und Region im Gleichgewicht halten, um sie besser beherrschen zu können, so wie einst Ludwig XIV Adel und Bürgertum (vgl. Elias 1997, II)? Ist hier erneut die Handschrift des Teile und Herrsche [8] zu erkennen? Warum sollte die Zentrale Interesse an reichen, selbstbewussten Regionen haben? Sie werden gezielt schwach gehalten und sehen sich einem inzwischen gestärkten Regionalpräfekten konfrontiert. Mabileau (1996, S. 233) sagt sogar, der Staat habe die Region marginalisiert, weil er ihr misstraue und ihre Opposition fürchte (vgl. Berthon 1996, S. 33).

Schließlich sollte man nie vergessen, dass die Dezentralisierung - und damit auch die Existenz der Region - vor 2003 nur gesetzlich, nicht verfassungsmäßig verankert ist, also relativ leicht modifiziert, wenn nicht gar rückgängig gemacht werden kann. Letztendlich geht es lediglich um politisch-administrative Strukturen, also das tragende organisatorisch-räumliche Netz des Leitprinzips Zentralismus, nicht um dieses selbst!