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'Anstatt einer Schlussbetrachtung: die Regionalisierung à la française macht einen weiteren Schritt nach vorn'
 
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Anstatt einer Schlussbetrachtung: die Regionalisierung à la française macht einen weiteren Schritt nach vorn

Mit der Übertragung partieller oder totaler Verantwortung für begrenzte Kompetenzbereiche haben die Dezentralisierungsgesetze von 1982 und 1989 den Gebietskörperschaften eine gewisse Autonomie verliehen. Doch reichten sie bei weitem nicht aus, um die Zentralisierung des Landes in Frage zu stellen. Beispielsweise wird die Raumplanungsbehörde des Staates, die DATAR [1] (Délégation à l'Aménagement du Territoire et à l'Action Régionale), heute von manchen als ein Hindernis für den Einsatz der EU-Strukturfonds empfunden: Von den für die Periode 2000-2006 erhaltenen Mitteln waren in der Jahresmitte 2002 erst 12% verplant. Sicherlich sind die Zeiten längst vorbei, als der Staat, wie in den 60er und 70er Jahren, von oben herab auf nationaler Ebene entworfene Großprojekte aufoktroyieren konnte, wie z.B. den Provence-Kanal oder den Kanal für die Bewässerung des unteren Rhône-Gebiets und des Languedoc. In der Tat ist die neue Regionalreform bereits in Angriff genommen. So hat die neue Regierung seit Sommer 2002 Maßnahmen ergriffen, um den Umweg der EU-Kredite über die Zentrale zu vermeiden bzw. ihren direkten Einsatz durch die Regionen zu ermöglichen. Das Elsass wurde ausgewählt, um dieses System zu erproben.

Ohne nennenswerte Aufmerksamkeit zu erregen und im Schatten des damals bevorstehenden Irak-Kriegs hat der Kongress, d.h. Nationalversammlung und Senat gemeinsam, am 28 März 2003 [2] in Versailles die Verfassung der Fünften Republik in Folgendem geändert: Frankreichs Republik ist von nun an "dezentral organisiert", und die Region wurde zu einer verfassungsmäßigen Gebietskörperschaft der französischen Republik erhoben. Die ersten neuen Kompetenzverlagerungen an die Regionen erfolgen ab Januar 2004. Diese erhalten schrittweise Zuständigkeiten

  • für die Subventionierung von Unternehmen und Handwerk sowie die Berufsausbildung;

  • für den Großteil der Verkehrsinfrastruktur (ohne Straßen), d.h. Häfen, Flughäfen, Wasserstraßen, "die nicht im nationalen Interesse liegen", sowie für Nahverkehrs- und Eilzugstrecken (TER). (Für diejenigen von untergeordneter Bedeutung werden Departements und Gemeinden zuständig);

  • für die Fremdenverkehrspolitik und -infrastruktur;

  • für einen Teil der Gesundheitspolitik.

    Parallel bekommen die Regionen zusätzliche Finanzmittel: einen Teil der Brennstoffsteuer, der Mehrwertsteuer und der Solidaritätssteuer. Insgesamt werden zusätzlich über 10 Mrd. Euro auf die Gebietskörperschaften übertragen, was den Gehältern von 150.000 Staatsbeamten entspricht. So kann man hoffen, dass die Region, deren Budget bisher immer unter dem jedes einzelnen ihrer Departements lag, künftig über ausreichende Mittel für ihre neuen Zuständigkeiten verfügt. Hier liegt übrigens der wahre Test für das Ausmaß der Machtanteile, die der Staat tatsächlich abzutreten bereit ist. Gleichzeitig räumt man auch den Departements neue Kompetenzen ein und stärkt auf diese Weise deren Existenz. Sie betreffen vor allem den Sozialbereich, das Personal im Schul- und Bildungswesen, den größten Teil der Nationalstraßen und die Wasserversorgung. In Bereichen allerdings, die strategisch wichtig oder sensibel sind, wie z.B. die Kulturpolitik, hält sich der Staat mit der völligen Übertragung seiner Zuständigkeit zurück, wie es die Pläne für kulturpolitische "Konventionen" zwischen Staat und Region bezeugen.

    Die allgemeine Zielrichtung dieser Kompetenzübertragungen weist also noch mehr auf eine Dekonzentration der Staatsaufgaben hin als auf vollständige Zuständigkeit der Regionen. Tatsächlich hat der Staat denen nachgegeben, die die heutige Regierung als "Fundamentalisten der Dezentralisierung" anprangern. Er wollte keine wirkliche Dezentralisierung durchführen, die der Region genutzt, aber dem Departement geschadet hätte, weil er es nicht wagte, einen von beiden zu bevorzugen. Das Gewicht der Region wurde nur insofern vergrößert, als man sie auf ihrem Territorium verantwortlich für den Zusammenhalt machte, als Strategin für die öffentlichen Aufgaben, als "Anführerin" der wirtschaftlichen Entwicklung, wohlgemerkt in Synergie mit dem Staat. Das Departement dagegen ist für den Nahbereich, den direkten Kontakt zuständig und teilt deshalb seine Befugnisse mit der Gemeinde - theoretisch, denn sehr wahrscheinlich wird diese über kurz oder lang verschwinden. Man wird langsam ihre Funktionen aushöhlen und diese stattdessen im verstädterten Bereich der 1999 geschaffenen communauté d'agglomération übertragen, im ländlichen Raum sukzessive dem Canton oder auch dem "pays". (Das "pays", im deutschsprachigen Raum etwa vergleichbar dem "Gau" oder dem "Land", ist eine auf uralte Wurzeln zurückgehende, meist unscharf abgegrenzte Raumeinteilung ohne administrative Funktionen, im Mittel etwa 1000 km² groß. Es erhielt durch das Raumordnungsgesetz von 1995 einen offiziellen Status, siehe Loi n° 95-115.).

    Allgemein kann man davon ausgehen, dass der Staat, um niemand unzufrieden zu machen, sich damit abgefunden hat, jedem Typ der Gebietskörperschaften teilweise oder völlig neue Kompetenzen zu verleihen. Man kann jedoch beobachten, dass dieser Dezentralisierungsprozess à la française stufenweise und pragmatisch verläuft, damit aber mit dem Geist der traditionellen französischen Jakobiner bricht. Die Regierung ist sich der geringen Effizienz der aktuellen Territorialstruktur in Frankreich und der Inkohärenz im Zuschnitt mancher Regionen durchaus bewusst. Sie wollte sich deshalb eine Hintertür offen lassen für alle notwendigen Anpassungen und Korrekturen, die sich im Bedarfsfall von selbst aufdrängen. Deshalb sieht der neue Regionalisierungsprozess Möglichkeiten vor, mit abweichenden Verwaltungsformen und Statuten zu experimentieren, aber auch, Gebietskörperschaften zusammenzulegen oder neue zu gründen. Dies geschieht in der Hoffnung, dass sich bei den Experimenten mit wachsender Einsicht der gesunde Menschenverstand durchsetzen wird. Man kennt z.B. das Ziel, in Korsika und im Elsass die jeweils beiden Departements zusammenzulegen bzw. abzuschaffen und nur noch die Region übrig zu lassen. Umgekehrt weiß man, dass die historische Region Savoyen, d.h. das Gebiet der heutigen Departements Savoie und Haute-Savoie, als Besonderheit innerhalb der Region Rhône-Alpes respektiert werden will oder dass der Region Champagne-Ardenne der Zusammenhalt einer wirklichen Region fehlt. Das gilt auf andere Weise auch für die Pays de la Loire, deren Hauptstadt Nantes (und mit ihr das ganze Dépt. Loire-Atlantique) wieder, wie einst in der vorrevolutionären "Provinz", zur Bretagne zurückkehren könnte. Über eine Fusion der Regionen Haute- und Basse-Normandie zu einer einzigen Region Normandie besteht zwar unter den betroffenen Volksvertretern keine Einigkeit, wird aber debattiert. Generell muss daran erinnert werden, dass man die aktuellen Regionen in den 60er Jahren lediglich als einfache regionale Verwaltungseinheiten abgesteckt hat, damit aber nicht unbedingt funktional zusammenhängende Räume mit eigener Identität definieren wollte.

Abbildung 20/21:

Die offizielle "Region Bretagne" und die Bretagne im historischen Selbstverständnis

Internet-Quelle [3]  (Abb. 20)
Internet-Quelle [4]  (Abb. 21)

Frankreich ist weit davon entfernt, sich einer föderalen Struktur zu nähern. Nichtsdestoweniger überschritt es Anfang 2003 eine wichtige Schwelle in Richtung auf eine echtere, zwar noch unvollständige, aber reale Regionalisierung. Es bemüht sich also unbestreitbar, seine Strukturen den Zwängen der europäischen Integration anzupassen, auch wenn es wahrscheinlich erst eine Etappe auf dem Weg des Fortschritts ist.