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'Die Dezentralisierung der Wohnstätten und die Siedlungen'
 
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Die Dezentralisierung der Wohnstätten und die Siedlungen

Seit dem Ende des XIX. Jahrhunderts sind die Entwürfe zur Erweiterung und zum Wandel von Paris nicht von der Suche nach einer umfassenden Lösung für die problematische Wohnsituation der einfachen Bevölkerungsschichten zu trennen. Hierfür wurden entsprechende rechtliche und finanzielle Maßnahmen geschaffen, wirtschaftliche und hygienische Wohnungen konzipiert sowie neue Flächen in der Stadt und in der Peripherie erschlossen. Das in Großbritannien erdachte Konzept der Gartenstädte hat zunächst konkretere Auswirkungen in Deutschland: In Hellerau [1] bei Dresden und in Stockfeld bei Straßburg werden Gartenstädte gebaut. Über die Verbindung mit dem Musée social beeinflußt das Konzept einige der Vorschläge der Commission d'extension. Sie empfiehlt 1913 die Schaffung zweier "Parkstädte" in La Courneuve und in Belle Épine, im Norden und Süden der Hauptstadt gelegene Gebiete.

Abbildung 16:

Gartenstadt Hellerau (Dresden).

Auf Initiative Karl Schmidts 1908 gegründete erste deutsche Gartenstadt. Die Gartenstadtbewegung war um 1900 in England entstanden. Eines ihrer Ziele war, neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu propagieren, welche sich auch auf künstlerischem und architektonischen Gebiet ausdrücken sollten.
Internet-Quelle [2]

Den tatsächlichen Beginn des von staatlichen Stellen betriebenen sozialen Wohnungsbaus markierten Programme wie die im Departement Seine, das vom Bürgermeister von Suresnes, Henri Sellier [3] , geleitet wurde. Von diesem Zeitpunkt an wendet sich das Interesse der Reformer den ähnlich angelegten Programmen in Deutschland zu. Im Mittelpunkt stehen das Finanzsystem, die Morphologie und die Architektur der Siedlungen. Die Qualität der von der Berliner Stadtverwaltung und den Wohnungsbaugesellschaften umgesetzten Bauvorhaben bleibt auswärtigen Schriftstellern und Journalisten nicht verborgen. (38)

In seiner Beschreibung der Berliner Raumgestaltung widmet Jean Giraudoux diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit. (39) Ausgehend von seinem Interesse für Problemstellungen des Städtebaus sensibilisiert ihn der Berliner Fall für die Pariser Vorstädte. Er übernimmt deshalb den Vorsitz der Ligue urbaine et rurale [4] , die aus dem Musée social hervorgegangen ist.

Henri Sellier hält seine Baumeister an, die deutschen Leistungen im Auge zu behalten, denen André Lurçat [5]  und mehrere andere Pariser Architekten Besuche abstatten. In cohenreich zählt Lurçat zu den gefragtesten der jungen und radikalen Fachleute seiner Generation. In einem Brief an seinen Berliner Kollegen Bruno Taut [6]  erwähnt er einige "Irrtümer", die er an der Siedlung in Britz festgestellt hat. Lurçat ist der Ansicht, dass die Gegenüberstellung von Dachterrassen und Hängen widersprüchlich ist und dass die Siedlung durch zu kräftige Farben unnötig an Helligkeit einbüßt. (40) In Zusammenhang mit diesem eher seltenen direkten Austausch an Erfahrungen zwischen einzelnen Architekten gibt es "Agenten", die Zeichnungen von Berliner Entwürfen in Umlauf bringen und Analysen beisteuern, die bisweilen sehr kritisch sind.

Der junge Architekt Roger Ginsburger publiziert in deutschen und französischen Zeitschriften für moderne Architektur. In Frankreich berichtet er über Fertigbauweise und Innenarchitektur in Deutschland, insbesondere über die Arbeiten von Ernst May [7]  in Frankfurt. (41) In seinen Beiträgen für die deutsche Presse unterstreicht er, dass die Architekturbilder und die Einrichtungsgegenstände der neuen Wohnungen in Dessau oder Berlin, die 1930 in der deutschen Abteilung des Salon des Artistes décorateurs gezeigt werden, den französischen Planern und Bauherrn eine heilsame Lektion erteilen. (42)

Bei seinen Auftritten im deutschen Umfeld nimmt Ginsburger zum Städtebau Stellung. Als die Regierung Brüning die Stadtrandsiedlungen bauen läßt, deren Ziel es ist, in der weitläufigen Peripherie der Städte Gartenhäuschen mit Gemüsegärten zu errichten, deren Bewohner sich in Krisenzeiten selbst versorgen sollen, kritisiert er die wirtschaftliche und politische Ausrichtung des Vorhabens unter Berufung auf La Question du logement (Die Wohnungsfrage) von Friedrich Engels. (43)

Abbildung 17:

Unité d'habitation in Berlin,
1956-58 von Le Corbusier im Rahmen der Internationalen Bauausstellung konzipiert, nach Marseille und Nantes dritte derartige Wohnanlage als 17-geschossiges auf Stützen stehendes Hochhaus mit 557 Wohnungen, die über neun mittig angelegte "Straßen" erschlossen werden.

Internet-Quelle [8]

Zur Unité d'habitation sowie für weitere Links zu diesem Thema,
hier klicken. [9]

Julius Posener [10]  steht den Architekten Hans Poelzig, Otto Rudolf Salvisberg oder Heinrich Tessenow näher als Walter Gropius [11]  oder Bruno Taut [12] . Von 1930 an berichtet er in L'Architecture d'aujourd'hui über die neuesten Entwicklungen der Berliner Architektur. Für Posener sind die im Namen der Kunst geführten Angriffe gegen die Funktionalisten ebenso wenig überzeugend wie deren vereinfachende Ansichten in Wohnungsfragen. Für ihn ist der Begriff "Wohnmaschine" absurd, weil Häuser im Gegensatz zu Maschinen keine genau festgelegte Bestimmung haben. Posener unterstreicht: "Wenn die Architektur ein Ziel an sich ist, so ist sie doch auch eine Kunst, ein Abbild des Menschengeschlechts." (44) Durch seine wiederholten Beiträge macht Posener die deutschen Unternehmungen für die französischen Fachleute zu wohlbekannten Bezugspunkten. (45) Seine Ausführungen sind wahrhaftig keine Lobeshymnen auf das Neue Bauen. Seine Abneigung geht soweit, dass er 1936 den Nutzen der ersten Unternehmungen des III. Reichs anpreist. Er hebt hervor, dass die "innere Kolonialisierung" am Stadtrand und die Förderung individueller Formen des Wohnens nicht "mit dem gemeinschaftlichen Wohnungsbau" vereinbar seien, den "die Gemeinden der Republik massenhaft betrieben haben." (46)

_________________________

Anmerkungen

(38) Siehe die Äußerungen von Henri Béraud, Simone de Beauvoir u. a., zusammengetragen von Cécile Chombard Gaudin, loc. cit., S. 379 380.

(39) Jean Giraudoux, Rues et visages de Berlin, Paris, Éditions de la Roseraie, 1930; Berlin, Paris, Émile Paul Freres, 1932.

(40) André Lurçat, Brief à Bruno et Max Taut, Paris, 17. Januar 1927, Fonds Lurçat, Institut français d'architecture.

(41) Roger Ginsburger, "A propos de la crise du logement, la construction rationnelle à l'étranger", La Nature, 2803, 15 février 1929, 1929, S. 152 158.

(42) Durand Dupont (Pseudonym. von Roger Ginsburger), "Der Deutsche Werkbund im Salon des Artistes Décorateurs, Paris", Das Werk, Juli 1930, S. 197 198.

(43) Roger Ginsburger, "Warum und wozu Selbstversorgersiedlungen?", in Die Form, 15. Juni 1932, S. 191 193.

(44) Julius Posener, "L'habitation nouvelle", L'Architecture d'aujourd'hui, 6. August -September, 1932, S. 108.

(45) Er ist der leitende Redakteur für zwei Ausgaben der Zeitschrift über Wohnungsbaugenossenschaften, in denen er folgende Artikel veröffentlicht: "Naissance du problème, premières solutions", in L'Architecture d'aujourd'hui, 6. Juni 1935, S. 15 34, und "Le plan de l'habitation à bon marché", in L'Architecture d'aujourd'hui, 7, Juli 1935, S.29 42.

(46) Jules Posener, "L'architecture du Troisième Reich", 1936, L'Architecture d'aujourd'hui, 4. April 1936, S. 9 47.