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'Heterogenität im größer werdenden Europa'
 
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Heterogenität im größer werdenden Europa

Mit Geertz wird hier ausgegangen von dem Stellenwert und dem Erkenntnisgewinn einer auf Distanz gebrachten Beobachtungshaltung, mit der unbekannte und fremde Kulturen bzw. kollektive Ausdrucksmuster beschrieben und enträtselt werden können (Fremdverstehen). Das Konzept einer dichten Beschreibung mündet so gesehen in dem Anspruch, den anderen mit dessen Augen zu sehen (Breit 1991). Der Ansatz von Geertz kann als Kontextmodell beschrieben werden, insofern soziokulturelle Zusammenhänge und das jeweilige "lokale Wissen" der Akteure berücksichtigt sind. Kontextbezüge zu deuten und die Sinndimensionen von Kontexten zu erkennen, dies stellt eine Lernanforderung an politische Bildung dar, die sich auseinander zu setzen hat mit den Anforderungen an zunehmend heterogene (Herkunfts)Milieus und Kulturen, die in den verschiedenen europäischen Ländern vorzufinden sind und die in den Diskussionen etwa um den Beitritt der Türkei in die Europäische Union sowie die Osterweiterung expliziert werden.

Abbildung 7:

Eine der Lernerfordernisse der politischen Bildung besteht darin, sich mit den Anforderungen an zunehmend heterogene Milieus und Kulturen auseinander zu setzen, die in den verschiedenen europäischen Ländern vorzufinden sind. Das wird nirgends deutlicher als in den Diskussionen um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union.

 

 

Internet-Quelle [1]

Diese Gedanken weiterführend lässt sich mit Giddens (Giddens 1997) sagen, dass die Arena politischen Handelns in der enttraditionalisierten Gesellschaft neu vermessen werden muss, da herkömmliche Koordinaten ihre Erklärungskraft verloren haben. Von einer Zuversicht in die gegebenen politischen Strukturen, etwa hinsichtlich drängender ökologischer, friedenspolitischer Probleme kann kaum die Rede sein. Erforderlich ist eine stärkere Partizipation auch von nichtinstitutionalisierten Gruppierungen am öffentlichen Geschehen, also ein breiter Einbezug der Bevölkerung ist notwendig. Statt sich auf Weisungen usf. von oben zu verlassen, müssen "Stimmen von unten" mehr Gewicht bekommen. Vieles, so könnte man sagen, hängt von der Entwicklung einer Dialogfähigkeit ab, von einem Dialog von unten. Dieses "Lernen des Dialogs" und die Entwicklung einer "Kompetenz zur Einflussnahme" wird bei Giddens zum Leitbegriff einer dialogischen Demokratie (Giddens 1997: 165 ff.), einer "Demokratisierung der Demokratie", die "die alltäglichen Sorgen und Bedürfnisse der Bürger in politische Entscheidungen einzubeziehen" in der Lage ist (Giddens 2001: 97). Hier nun ließe sich dies aufnehmen als besondere Anforderung an eine europapolitische Bildung.

Mit Giddens können die Überlegungen zu Geertz dahingehend weitergeführt werden, dass kulturelle Kontexte (als "Konsequenzen der Moderne" 19993) nicht länger als voneinander abgeschottet betrachtet werden können. Vielmehr sind Lokales, sind kulturelle, gesellschaftliche, ökonomische und politische Entwicklungen immer auch verstrickt mit globalen weltumspannenden Entwicklungen. Gleichzeitig sei aber mit Welsch den hier dargelegten Dialogerfordernissen hinzuzufügen: "Man sollte den Wunsch nach besonderer Identität ernst nehmen. Die Menschen setzen sich offenbar gegen ein Aufgehen im Einerlei globaler Uniformierung zur Wehr. Sie wollen nicht bloß universal oder global, sondern auch spezifisch und eigen sein. Sie möchten sich unterscheiden und in einer spezifischen Identität verankert wissen. Dieses Bedürfnis ist legitim" (Welsch 2001: 282).

Abbildung 8:

Kanada hat den Aspekt der Multikulturalität gesetzmäßig verankert. Es entspricht damit dem Bedürfnis seiner aus vielen Ländern der Welt zusammengewürfelten Bevölkerung nach Identität i. S. der jeweiligen ethnischen, religiösen, sprachlichen oder sonstigen Zugehörigkeit. M. Welsch (2001: 282) drückt dieses Bedürfnis so aus: "Die Menschen setzen sich offenbar gegen ein Aufgehen im Einerlei globaler Uniformierung zur Wehr. Sie wollen nicht bloß universal oder global, sondern auch spezifisch und eigen sein. Sie möchten sich unterscheiden und in einer spezifischen Identität verankert wissen. Dieses Bedürfnis ist legitim."

Internet-Quelle [2]

Nun ist die Frage aufzugreifen, was könnte dies aus der Sicht, dem Blickwinkel von Schülerinnen und Schülern bedeuten? Als Anforderungen an eine ethnografische Deutungskompetenz von Schülerinnen und Schülern ließen sich hier im Sinne längerfristiger Entwicklungsaufgaben formulieren:

  • symbolische Ausdrucksformen, Zeichen, Rituale usf. im jeweiligen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext deuten lernen (ethnografische Neugierde befriedigen, auf Fremdheitsgefühle reagieren);
  • lokale und globale Verstrickungen durchschauen lernen: Was hat das Fremde, das Entfernte mit mir zu tun, und umgekehrt, was bedeutet mein Handeln usf. für andere, die ich möglicherweise nie zu Gesicht bekomme?;
  • sich Gehör verschaffen (als Einzelner ernst genommen werden) mit anderen in einen Dialog treten dialogfähig zu sein also eine Dialogfähigkeit herstellen zu können zwischen eigenen und fremden Selbst- und Weltentwürfen (auch um eine eigenständige politische Urteilskraft entwickeln zu können)

Etwa indem:

  • Fälle von "Solidarität unter Fremden" (Brunkhorst 1996) studiert werden;
  • Probleme des Fremdverstehens, die täglich erfahren werden, thematisiert und politisch gedeutet werden (mehrdeutig, mehrperspektivisch);
  • eigene fremde Gefühle erkundet werden, um sie nicht den "Anderen" zuschreiben zu müssen (Cohen 1993).

Bezogen auf die besonderen Anforderungen, die das Lernfeld Europa mit sich bringt, wäre den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, ihren Alltag, ihre Erfahrungen, ihre soziale und politische Welt zu durchforsten nach existenziell wichtigen, nach subjektiv bedeutsamen "Grenz und Auslösesituationen", die sie selber enträtseln, verstehen und durchschauen wollen.