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'Schein und Größe'
 
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Schein und Größe

Französische und deutsche Schauspieler entstammen nicht der gleichen Schauspieltradition. Ihre Vorgehensweise, sich die „Figur“ anzueignen, und ihr Verständnis von der Aufführung eines Dramas werden nicht aus den gleichen Quellen genährt. Auf die Gefahr einer zu simplen Darstellung hin würde ich behaupten, dass der Beruf des französischen Schauspielers zum einen aus der Tradition der Klassik, wie sie sich im 17. Jahrhundert herausbildete, zum anderen aus der Ästhetik des Vaudeville [1] hervorgegangen ist. In beiden Fällen ist nicht das Sein der Figur ausschlaggebend, sondern die Tatsache, dass die Figur sich in einem System von Beziehungen en représentation befindet. Es gibt in der französischen Tradition eine Vorliebe für den Schein, die zwar nicht so stark ausgeprägt ist wie in der spanischen Tradition, wo es sich um eine regelrechte Leidenschaft handelt, die die deutsche Tradition jedoch zurückweist. Lessing sagte in etwa: Der Franzose möchte immer größer erscheinen, als er ist - der Engländer hingegen möchte alles, was groß ist, auf sich zurückführen und auf sich beziehen.

Abbildung 2:

Vaudeville, abgeleitet aus frz. "voix de ville" = Stimme der Stadt.
Damit wurden die zeitkritischen, ironischen Stegreif-Stücke der italienischen Komödianten auf den Pariser Jahrmarktsbühnen seit Ende des 17. Jh. bezeichnet. Zwischen 1700 und 1750 war das V. die Hauptform des frz. Singspiels, um 1765 wurde es von der Opéra comique verdrängt. In den USA stellte das Vaudeville Mitte des 19. Jahrhunderts einen Vorläufer des Musicals dar.

Internet-Quelle [2]

Diese Vorliebe für Schein und Größe, die im 17. Jahrhundert in der sogenannten Klassik mit der Etablierung des souveränen Staates Form annahm, geht mit der Größe des Staates und der daraus resultierenden Vorliebe für den Schein einher. Noch de Gaulle hat uns ein Lied davon gesungen. Es ist die Größe des kartesianischen Staates, der sich aus der Vormundschaft der Religion sanft gelöst hat, das heißt, es ist die Größe der Politik und die Größe der wahrscheinlichen Opfer, die sie verlangt, und über die wir bei Corneille und Racine nachlesen können.

Hier muss man unterscheiden zwischen den verschiedenen Beziehungen von Staat und Religion: Es gibt die barocke, die spanische Variante, bei der die Politik der Religion nicht nur unterworfen ist, sondern sich von ihr nicht unterscheidet; es gibt die englische Variante seit Heinrich VIII., bei der der König, indem er sich dem Einfluss des Papsttums entzieht, selbst zum Haupt seiner Kirche wird; und es gibt schließlich die französische Variante, die so weit geht, die Politik von der religiösen Vormundschaft zu befreien, ja die Kirche Frankreichs in allen politischen Fragen der Autorität des Königs zu unterstellen, dabei in religiösen Fragen aber weiterhin die Autorität des Papstes anerkennt. Der souveräne Staat kann durchaus eine Staatsreligion oder eine Staatskirche anerkennen, es ist dabei aber von Bedeutung, dass die Anerkennung beider aus einer souveränen Entscheidung des Staates hervorgeht. In diesem Sinne kann die Entstehung des souveränen Staates als Geburtsstunde des modernen Politikverständnisses durch Überwindung der Religionskriege angesehen werden, wobei in dieser Auffassung von Politik eine Vorliebe für Größe und Schein zu finden ist mit dem Verlangen nach einem gewissen Pomp: nach dem berühmten „tragischen Prunk“ unserer klassischen Ästhetik. In der griechischen Etymologie stehen „politisch“ und „barbarisch“ einander gegenüber: Dieser Staatsauffassung und dieser Ästhetik zufolge, die der griechischen Etymologie entliehen sind und den Gegensatz zwischen „politisch“ und „barbarisch“ übernehmen, wäre Corneille politisch und Shakespeare barbarisch.