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'Das Dilemma verfehlter Wahrnehmung'
 
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Das Dilemma verfehlter Wahrnehmung

Beziehungsprobleme zwischen Frankreich und Deutschland gibt es genug. Die Geschichte der Missverständnisse, des Weghörens, der Interferenzen ist ebenso lang wie die der Verständigung, des wechselseitigen Bewunderns und Voneinanderlernens. Diese Aussage gilt für alle drei Ebenen der kulturellen Beziehungen: die individuelle, die offiziöse und die offizielle; sie betrifft sowohl den Bereich des intentionalen, mehr oder weniger institutionalisierten Kulturaustauschs wie die dem gezielten Kulturtransfer vorgelagerten, psychosozialen Prozesse und Bedingungen.

Angesichts der intellektuell-emotionalen Flaute im deutsch-französischen Miteinander und der regierungsamtlichen Sparflammenpolitik auf beiden Seiten des Rheins, der bereits eine Reihe von Goethe-Instituten zum Opfer fielen und französische Kulturinstitute folgen (3), hat es für die Kenner der deutsch-französischen "Beziehungskiste" bisher immer einen Trost gegeben: die Gewissheit von deren Konjunkturabhängigkeit. Spätestens seit der Großen Revolution ist der Wechsel von euphorischen und krisenhaften Phasen ebenso charakteristisch für die reziproke Wahrnehmung deutscher und französischer Intellektuellen wie die Ungleichzeitigkeit der nationalen Begeisterung. Die politischen Ereignisse haben dabei eine wesentliche, aber nicht immer ausschlaggebende Rolle gespielt. Für die hier betrachtete Zeit drängen sich zwei Beispiele auf: die begeisterte Aufnahme des Existentialismus [1]  in Westdeutschland nach 1945 und die merkwürdig späte, zögerliche Rezeption der Kritischen Theorie [2]  in Frankreich. (4)

Aber mit dem Entstehen der Berliner Republik, dem Ausbau der Europäischen Gemeinschaft, den Auswirkungen der Globalisierung hat sich in der deutsch-französischen Umwelt so vieles verändert, dass sich die Frage stellt: Wird das neue Jahrhundert den beiden vergangenen im Blick auf das konjunkturelle Auf und Ab der deutsch-französischen Kulturbeziehungen folgen oder wird mit deren Vertraglichung und Veralltäglichung der Charme elementarer Faszination endgültig ausgereizt sein? 

Abbildung 3:

In der Kritischen Theorie werden die historischen Erfahrungen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts verarbeitet – in denen sich zeigte, dass die wirklichen Menschen nicht in ausreichendem Maße die gebotenen Gelegenheiten ergriffen, sich von den kapitalistischen Umständen zu befreien.

Internet-Quelle [3]

Selbstverständlich gibt es noch Schüler/-innen und Studierende, die die Sprache des Nachbarn lernen, Germanisten und Germanistinnen; Romanisten und Romanistinnen, die sie lehren ebenso wie die dazugehörigen politischen Kulturen, Organisationen, die sich um den Austausch kümmern und sich dabei moderner Kommunikationsmedien bedienen, Institute und Personen, die als professionelle Mittler tätig sind, kurz, eine Menge von Lobbyisten in Sachen gemeinschaftlicher Sinngebung.

Aber was bewirken sie in zwei Gesellschaften, die einander immer ähnlicher und gleichzeitig fremder geworden sind, die vergleichbare soziale Probleme haben, ihre Vorbilder jedoch woanders suchen, die ein hoher Grad wirtschaftlicher Verflechtung auszeichnet und eine wachsende Zahl von Fusionen, deren Bürger dennoch immer öfter auf eine scheinbar leichter zu erlernende lingua franca [4] ausweichen? Es ist nicht leicht, den Beweis der Notwendigkeit deutsch-französischen Kulturaustauschs zu führen. Aber da es ihn gibt, und er (wenngleich von Minoritäten!) nachgefragt wird und möglichst lebendig bleiben sollte, muss nach den Ursachen mangelnder oder verfehlter reziproker Wahrnehmung gefragt werden.

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Anmerkungen

(3) Vgl. A. Rossmann, Mit dem Rücken zum Rhein. Französische Kulturinstitute in Deutschland: Verschiebungen und Verwirrungen, in: FAZ, 3.2.2001.

(4) Vgl. M. Christadler, Die deutsch-französischen kulturellen Beziehungen: ein Modell für Europa? in: Nouveaux Cahiers d‘Allemand 12/1994, S. 215 f.