French
German
 
Seite zur Sammlung hinzufügen
'Karikaturen und kollektives Bewusstsein '
 
1 Seite(n) in der Sammlung
 
 
 
 
 

Karikaturen und kollektives Bewusstsein

Wie jeder Versuch einer Ermittlung und Erforschung mentaler Strukturen hat auch unsere Rekonstruktion von Frankreich-Bildern darauf zu achten, dass sie nach Möglichkeit nicht nur Zutreffendes, sondern auch Relevantes, Repräsentatives und nicht bloß Zufälliges, Kontingentes zu Tage fördert. Als einer der Königswege gilt dabei für neuere Epochen der Rekurs auf Pressetexte. Unser spezielles Interesse für Pressezeichnungen wiederum entspringt einer Überzeugung, die zu Beginn dieses Jahrhunderts Karl Eugen Schmidt - übrigens durchaus mit Bezug auf die deutsch-französischen Beziehungen - formuliert hat:

"Ich glaube, nirgends findet man besser und wichtiger die Meinung und Ansicht des eigentlichen und wahren Volkes als in den Karikaturen [...]. Eine Karikatur, die wir in einer einzigen Sekunde überschauen, sagt uns ebensoviel wie der längste Leitartikel [...]. Die Karikatur gibt uns also die Quintessenz der öffentlichen Meinung, in ihr finden wir die Gefühle und Ansichten des Volkes kristallisiert wieder. Wollen wir wissen, was ein Volk zu einer bestimmten Zeit über irgendeinen Gegenstand gedacht hat, so werden wir das am besten und schnellsten aus seinen Karikaturen erfahren" (1).

Für diese Behauptung sprechen gattungsspezifische Eigenschaften der Karikatur. Satirische Pressezeichnungen sind auf unmittelbare intellektuelle und affektive Wirkung angelegt. Die Notwendigkeit einer schnellen ersten Reaktion schließt allerdings nicht aus, dass die Zeichnung vielschichtig sein kann und sich nach und nach mehrere Bedeutungsebenen identifizieren lassen. Gute Karikaturen verbinden Instant- und Langzeiteffekt. Die Sofortwirkung kommt jedoch nur zustande, wenn Zeichner und Leser über ein weitgehend deckungsgleiches Zeichenrepertoire verfügen, wobei diese Kongruenz sich auch auf subtile Konnotationen erstrecken muss. Der Zeichner muss also den Wissens-, Erfahrungs- und Erwartungshorizont seines Publikums genau kennen und berücksichtigen. Sein Zeichenrepertoire kann nicht in erster Linie künstlerischem Selbstausdruck dienen, sondern es reflektiert kulturelles Wissen, Massenbewusstsein, kollektive Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster.

Für K. E. Schmidt war die politische Karikatur allerdings "Quintessenz der öffentlichen Meinung" nur in Systemen und Epochen, in denen "Pressefreiheit" herrscht. In der Tat kann in Ländern und Systemen mit staatlich gelenkter Pressepolitik die durch Medien verbreitete (im Sinne von: propagierte, veröffentlichte) Meinung erheblich von den tatsächlich massenhaft verbreiteten (im Sinne von: vorfindlichen) Meinungen abweichen, ja in diametralem Gegensatz zu diesen stehen.

Logo des Satiremagazins Eulenspiegel. Hervorgegangen aus der Satirezeitschrift "Frischer Wind", war der Eulenspiegel das einzige öffentliche Forum, in dem in der DDR Satire stattfand, Kritik zwischen den Zeilen möglich war und Karikaturisten sich ausleben konnten.

Quelle: www.eulenspiegel-zeitschrift.de

Mit der Untersuchung der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel, die seit 1954 unter diesem Titel erscheint (zuvor, und zwar seit April 1946, als Frischer Wind), versuchen wir, dieses Dilemma in relativ engen, vertretbaren Grenzen zu halten: Im Unterschied zu anderen Periodika, deren hohe Auflage keineswegs einer realen Nachfrage entsprang, konnte der Eulenspiegel die Publikumsnachfrage selten befriedigen (2). Seine Auflagenhöhe wurde durch die Papierzuteilung begrenzt und hätte nach Aussagen von Mitarbeitern und potenziellen Lesern, deren Abonnementswünsche nicht erfüllt werden konnten, erheblich höher liegen können. Auch wenn sie sich nicht so exakt wie in marktwirtschaftlichen Systemen messen lässt, ist die klar belegte Nachfrage ein Indiz für ein reales Interesse, für eine Annahme des Angebots, also - auch unter staatssozialistischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen - für eine weitgehende Übereinstimmung von veröffentlichter Meinung und Erwartungshorizont des Publikums.

Da Satire-Leser in allen Systemen und Regimes zu den kritischen, überdurchschnittlich politisierten Köpfen zählen, wagen wir die Behauptung, dass das von uns ausgewählte Organ so etwas wie das im Rahmen des herrschenden Systems "größtmögliche publikationsfähige kritische Bewusstsein" reflektiert.

______________________

Anmerkungen

(1) Schmidt, Karl Eugen: Deutschland und die Deutschen in der französischen Karikatur seit 1848. Müller. Stuttgart 1907, S. 9.

(2) Diese Aussagen beruhen v. a. auf 1994 geführten Gesprächen mit den Eulenspiegel-Journalisten Hartmut Berlin (Chefredakteur) und Ernst Röhl.

Links: