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'Neue Grenzen in Europa'
 
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Neue Grenzen in Europa

Auch die französischen Juristen sahen dies so; sie maßen den vertraglichen Sicherungen des Vertrages nur wenig Gewicht zu und sahen in ihrer kurzsichtigen Betrachtungsweise über einen bedeutsamen Schönheitsfehler des Vertrages hinweg, der eine erhebliche Minderung seiner moralischen Bindungskraft deswegen mit sich brachte, weil dieser nicht als ein echter Vertrag de contrahendo zwischen Partnern zustande gekommen, sondern dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten auferlegt worden war, ohne dass ernsthafte Verhandlungen geführt worden waren (3). Zwar verzichteten die Franzosen auf ihr anfängliches Ziel, die Zerschlagung des Deutschen Reiches in eine Mehrzahl von Staaten durchzusetzen (4), aber sie betrieben die faktische, wenn auch nicht völkerrechtliche Abtrennung der linksrheinischen Gebiete in der Hoffnung, dadurch dem Ziel der langfristigen Schwächung des Deutschen Reiches um einiges näher zu kommen. Aus den gleichen Gründen wirkten sie massiv darauf hin, dass dem Deutschen Reich im Versailler Vertrag drückende wirtschaftliche Bedingungen auferlegt wurden, um dessen militärische und wirtschaftliche Wiedererstarkung zu erschweren. 

Die Franzosen betrieben in den Verhandlungen um den Versailler Vertrag die faktische, wenn auch nicht völkerrechtliche Abtrennung der linksrheinischen Gebiete in der Hoffnung, dadurch dem Ziel der langfristigen Schwächung des Deutschen Reiches um einiges näher zu kommen (vgl. Text).

 

 

Quelle: www.atlas-historique.net/1914-1945/cartes/Armistice1918.html
© www.atlas-historique.net 08-2002

Vor allem unterstützten die französischen Diplomaten die weit reichenden Ziele der Sprecher der ost- und südosteuropäischen Völker uneingeschränkt auch dort, wo dies die Einbeziehung großer Gruppen der deutschen Bevölkerung in die neuen Nationalstaaten zur Folge hätte. Im Grunde wurde die französische Diplomatie nach 1919/20 von der Furcht vor, ja unterbewusst gar von der Obsession eines erneuten Krieges mit dem Deutschen Reich geleitet, wie so oft in der Geschichte, am Ende zu einer self-fulfilling prophecy wurde. Auch in den alles entscheidenden territorialen Fragen war die französische Diplomatie in erster Linie von der Erwägung geleitet, wie man die Sicherung Frankreichs gegen einen künftigen Angriffskrieg des Deutschen Reiches durch die Errichtung eines Schutzwalls von möglichen starken Staaten in Ostmittel- und Südosteuropa erhöhen könnte.

Die französischen Soldaten maßen der Unterzeichnung des Friedensvertrags durch die Deutschen nur geringe Bedeutung zu, obschon die Unterzeichnung des Vertrages ihnen die endgültige Demobilisierung und die Rückkehr zu ihren Familien in Aussicht stellte. Sie sahen darin nur eine Etappe in dem weiter gehenden Konflikt mit den Deutschen, nicht aber einen wirklichen Friedensschluss (5). Dies entsprach der Einstellung der Führungselite der Reichswehr in der Anfangsphase der Weimarer Republik, die alles daransetzte, den Versailler Vertrag wieder zu Fall zu bringen, während die übergroße Mehrheit der Soldaten 1918 ein Ende des Krieges gefordert hatte und für eine "levée en masse" keinesfalls zu haben war, wie sie damals von verschiedenen Seiten, u.a. von Walther Rathenau [1] , gefordert worden war. 

Gravierender noch als die moralischen und wirtschaftlichen Bestimmungen, namentlich die Schuldfrage und die von den deutschen Eliten als ehrenrührig empfundene Forderung, die verantwortlichen Politiker und Militärs vor einem internationalen Gericht zur Verantwortung zu ziehen, waren die territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages und der damit verzahnten Pariser Vorortverträge [2] . Auch in heutiger Sicht erscheint die damals, in Anwendung einerseits des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung, andererseits aber verwickelter machtpolitischer Erwägungen, durchgeführte Neuordnung Ostmitteleuropas, unter Errichtung einer Reihe von neuen Nationalstaaten auf dem Territorium der zusammengebrochenen Donaumonarchie als der umstrittenste Aspekt der Pariser Vorortverträge. Die Anwendung des Wilson’schen Prinzips der nationalen Selbstbestimmung auf diesen – von ethnisch wie kulturell unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Gemengelage besiedelten – Raum, die wesentlich am Maßstab der sprachlichen Zugehörigkeit zu bestimmten Völkern bzw. Volksgruppen orientiert war, erwies sich bereits als problematisch (6). Seine Kombination mit machtpolitischen Gesichtspunkten, wie sie die europäischen Alliierten einbrachten, vermehrte die Schwierigkeiten noch zusätzlich.

Bei der Gründung eines einheitlichen südslawischen Staates im Rahmen des Versailler Vertrags wurde geflissentlich übersehen, dass in diesem Raum ethnische, kulturelle und religiöse Komponenten nationaler Identität miteinander konkurrierten; daraus resultiert die problematische Gründung des neuen Staates Jugoslawien als eines integralen Nationalstaats der Serben, Kroaten und Slowenen (vgl. Text).

Quelle: links [3] / rechts [4]

Namentlich die französische Diplomatie unterstützte die weitreichenden Forderungen der ost- und südosteuropäischen Nationalbewegungen uneingeschränkt, auch dort, wo dies die Einbeziehung großer Gruppen der deutschen Bevölkerung in die neuen Nationalstaaten zur Folge hatte. Die Idee, man müsse einen cordon sanitaire gegen das Deutsche Reich etablieren, führte zu problematischen Lösungen, wie der Aufrechterhaltung der "historischen Grenzen" in Böhmen unter Verletzung des ansonsten hochgehaltenen Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Bei der Gründung eines einheitlichen südslawischen Staates wurde geflissentlich übersehen, dass in diesem Raum ethnische, kulturelle und religiöse Komponenten nationaler Identität miteinander konkurrierten; daraus resultiert die problematische Gründung des neuen Staates Jugoslawien als eines integralen Nationalstaats der Serben, Kroaten und Slowenen.

Die Stabilität der neuen Staaten in Ost- und Ostmitteleuropa wurde von Anfang an durch die nationalrevolutionären Bestrebungen der nationalen Minderheiten bedroht, obschon die Friedensmacher in Paris durch ein Gesetz zum Schutz der jeweiligen nationalen Minderheiten, das in die jeweiligen Vorortverträge integriert war, Abhilfe zu schaffen gesucht hatten (7). Auch in den neuen Staaten war die Zufriedenheit mit den Bestimmungen des Versailler Vertrages und der Pariser Vorortverträge begrenzt. Hier breitete sich nun ein integraler, an der vorherrschenden Nationalität ausgerichteter Nationalismus aus, der einem Ausgleich zwischen den verschiedenen Nationalitäten innerhalb wie außerhalb der eigenen Staatsgrenzen wenig günstig gesonnen war. Zwar sicherten die neuen Verfassungen nationalen Minoritäten die bürgerliche Gleichberechtigung, und auch im Schulwesen kam es zu mancherlei Konzessionen, während alle Bemühungen von vornherein scheiterten, durch eine Dezentralisierung der Staatsfunktionen oder die Einführung eines nationalen Katasters, den nationalen Minderheiten einen rechtlich gesicherten Status zu verschaffen. Allerdings wird man aus heutiger Sicht bezweifeln können, ob unter den obwaltenden Umständen die Sprengkraft der Nationalitätenkonflikte durch derartige alternative Modelle dauerhaft hätte entschärft werden können (8). 

Das "Feindbild" des Preußen. In vielen Karikaturen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wird Deutschland durch das Bild eines aggressiven, gewalttätigen und überdisziplinierten Preußen verkörpert. Auch aus dieser Sicht ist verständlich, dass die Rückkehr Elsass-Lothringens in das rechtliche und administrative System der französischen Republik vom Tage der Unterzeichnung des Waffenstillstands an mit großer Energie betrieben wurde.

 Quelle: Ursula Koch, Voisins et ennemis: La guerre des caricatures entre Paris et Berlin (1848-1890). In: J.-C. Gardes et D. Poncin (éd.): L'étranger dans l'image satirique. Poitiers 1994, S. 73-96

Die westeuropäische Idee der Staatsnation [5] , welche über die formalrechtliche Sicherstellung des Bürgers nicht hinausging und die nationalen Fragen gleichsam nur indirekt zur Kenntnis nahm, gewann die Oberhand. Dies gilt übrigens auch für die Rückgliederung des Elsass und Lothringens in den französischen Staatsverband. Auch hier hatten die immerhin vorhandenen Bestrebungen, für die Elsass-Lothringer einen autonomen Status innerhalb des französischen Staates zu erlangen, keinerlei Chancen. Vielmehr wurde die Rückkehr Elsass-Lothringens in das rechtliche und administrative System der französischen Republik vom Tage der Unterzeichnung des Waffenstillstands an mit großer Energie betrieben. Die Repräsentanten und Gefolgsleute der bisherigen deutschen Verwaltung ebenso wie die deutschen Leiter der lokalen Industrieunternehmungen wurden unverzüglich ausgewiesen (9). Die anfänglichen Proteste auf deutscher Seite gegen die rigide französische Renationalisierungspolitik in Elsass-Lothringen verhallten wirkungslos.

Unter diesen Umständen waren die Aussichten nicht eben gut, dass Europa nach dem Abschluss der territorialen Neuordnung, die sich wegen der in einigen Regionen noch durchzuführenden Plebiszite noch um einiges hinauszog, zur Ruhe kommen werde. Es kam hinzu, dass das Vertrauen darauf, dass sich mit Hilfe des Instruments des Völkerbundes [6]  künftige militärische Konflikte in Europa verhindern oder begrenzen lassen würden, allseits gering war, zumal die Verlierer des Krieges in dessen Institutionen zunächst nicht vertreten waren (vgl. Karte [7] ). Namentlich die Deutschen sahen im Völkerbund weithin nur ein Instrument zur Knebelung der deutschen Politik.

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Anmerkungen

(3) Vgl. Annie Deperchin, Die französischen Juristen und der Versailler Vertrag, in: Ebenda., S. 87-102, hier S. 98 ff..

(4) Vgl. Jean-Jacques Becker, Frankreich und der gescheiterte Versuch, das Deutsche Reich zu zerstören, in: Ebenda., S. 65-70.

(5) Vgl. Bruno Cabanes, Die französischen Soldaten und der "Verlust des Sieges", in: Ebenda, S. 269-279.

(6) Vgl. Anton Pelinka, Intentionen und Konsequenzen der Zerschlagung Österreich-Ungarns, in: Ebenda, S, 202-211, hier S. 210. Pelinka kommt zu dem Schluss, dass das Selbstbestimmungsrecht "nicht wirklich geeignet« gewesen sei, »dem mitteleuropäischen Raum politische Stabilität zu geben".

(7) Vgl. dazu Pelinka, Zerschlagung Österreich-Ungarns, S. 208 ff., Detlev Brandes, Die Tschechoslowakei und die Pariser Vorortverträge, in: Ebenda, S. 174-192, hier: S. 184 ff., Hans Hecker, Zweimal Polen: In Versailles und heute. Erwartungen und Ergebnisse, in Ebenda, S. 333-341, hier: S. 335 ff.; und Dittmar Dahlmann, Gewinner oder Verlierer? Die Bedeutung der Pariser Friedensverträge für Jugoslawien und Ungarn, in: Ebenda, S. 193-201.

(8) Siehe dazu für den besonders kritischen Fall der Tschechoslowakei: Brandes, Tschechoslowakei, S. 186 ff.

(9) Vgl. dazu die bemerkenswerte Studie von François Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich, in: Ebenda, S. 126-144, hier S. 130-139.