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'Unterschiedliche Erinnerungen und nationale Identitäten'
 
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Unterschiedliche Erinnerungen und nationale Identitäten

Die Schatten von zwei Weltkriegen, in denen sich Frankreich und Deutschland als Gegner gegenübergestanden hatten, belasteten die Beziehungen in den fünfziger Jahren noch immer. Die Erinnerungen an den Tod vieler junger Deutscher und Franzosen in den Schlachten des Ersten Weltkriegs, die französische Erinnerung an die deutsche Besatzung des östlichen Landesteils im Ersten, dann großer Teile Frankreichs einschließlich der Hauptstadt Paris im Zweiten Weltkrieg, die Morde an französischen Widerstandskämpfern und Geiseln, aber auch die deutsche Erinnerung an die – unvergleichlich mildere – französische Besatzung [1] im Rhein-Ruhr-Gebiet und im Südwesten Deutschlands waren immer noch wach.

Der Kalte Krieg [2] schuf zwar einen gemeinsamen Gegner, brachte aber gleichzeitig neue Gegensätze hervor. In Frankreich besaß eine starke, durch den Widerstand gegen die deutsche Besatzung moralisch gestärkte, kommunistische Partei großen öffentlichen Einfluss. Unmittelbar nach dem Krieg war sie Koalitionspartner in Regierungen gewesen, sie kontrollierte die größte Gewerkschaft des Landes, besaß viel Einfluss unter den französischen Intellektuellen, von denen nur einige der Partei nach dem Ungarn-Aufstand [3] von 1956 den Rücken gekehrt hatten.

Abbildung 3: Antifranzösisches Propagandaplakat gegen die
Ruhrbesetzung im Jahre 1923

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: www.dhm.de/lemo/objekte/pict/pli02725/index.html

In der alten Bundesrepublik dagegen waren kommunistische Strömungen durch den Konflikt mit der Sowjetunion und der DDR kompromittiert; die kommunistische Partei war in den Wahlen weit unter die Fünf-Prozent-Marke gesunken, bevor sie von der Regierung unter Konrad Adenauer [4] verboten wurde.

Durch den Zusammenbruch seines Kolonialreichs war Frankreich den Deutschen noch fremder geworden. Diesen blieb schwer verständlich, was hinter dem Indochina [5] - und dem Algerienkrieg [6] , hinter den Konflikten zwischen der französischen Polizei und den in Frankreich lebenden Algeriern sowie hinter dem Zusammenbruch der IV. Republik stand und was 1958 zur V. Republik und zur Machtübernahme Charles de Gaulles [7] führte. Frankreich machte in dieser Phase eine seiner traumatischsten Erfahrungen im 20. Jahrhundert. In der ruhigen, beschaulichen, prosperierenden Adenauer-Ära suchte man dagegen die jüngste Vergangenheit zu vergessen.

In ihrem nationalen Selbstverständnis [8] lagen die beiden Länder denkbar weit auseinander. Den Nationalkult de Gaulles, das Berufen auf die "grande nation [9] ", die Militärparaden und die Beschwörung der französischen Sprache und Kultur sahen die Deutschen häufig als anachronistisch an. Sie fürchteten sogar einen französischen Anspruch auf kulturelle Suprematie und verstanden meist nicht, dass de Gaulle auch die Niederlage gegen die Wehrmacht 1940, die nicht selten bitteren Erfahrungen als vierte Besatzungsmacht von 1945 und den Zusammenbruch des französischen Kolonialreichs zu kompensieren versuchte. Die Franzosen kamen umgekehrt mit den "querelles allemandes" – der Rivalität zwischen der Bundesrepublik und der DDR – nicht zurecht, die sie als Rückkehr zur deutschen Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts interpretierten.

Ihr jeweiliges Verhältnis zu den USA trieb die beiden Länder weiter auseinander und führte bei der Verabschiedung des Elysée-Vertrages im Bundestag zu einer Verstimmung zwischen der französischen und der deutschen Regierung. Trotz zweier Kriege hatten die Deutschen eine lange, enge Bindung an die USA: durch die Auswanderung von Millionen Deutscher nach Amerika; durch die amerikanische Wiederaufbaupolitik nach 1945; durch die Erfahrung der amerikanischen Solidarität während der Berlin-Blockade; auch durch den kulturellen und politischen Einfluss der deutschen Emigranten in den USA, von denen nicht wenige als intime Kenner des Landes in der Öffentlichkeit wirkten.

Die französischen Intellektuellen standen dem amerikanischen Kultureinfluss, vor allem der Massenkonsumgesellschaft, viel ablehnender gegenüber. Sie kritisierten auch die Rolle der USA im Kalten Krieg. In der Mehrheit unterstützten sie die unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik Frankreichs gegenüber den USA – unter deutschen Intellektuellen eine so außergewöhnliche Position, dass man sie "gaullistisch" nannte. Die Supermacht USA wurde in Frankreich und in der Bundesrepublik ganz unterschiedlich gesehen.