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'Italienische und polnische Arbeitsmigranten seit den 1870er Jahren'
 
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Italienische und polnische Arbeitsmigranten seit den 1870er Jahren

Mit den wirtschaftlichen Veränderungen der 1870er Jahre – schnelle industrielle Entwicklung einerseits und Wirtschaftskrise im atlantischen Raum 1873-96 – wurden in Frankreich und Deutschland mehr Arbeitskräfte benötigt, als aus der Landwirtschaft abwanderten. Sie sollen billig und flexibel einsetzbar sein. In Italien und in Polen, mit vergleichsweise geringerer Industrialisierung und hohem Geburtenüberschuss, begann in dieser Zeit eine über Jahrzehnte andauernde Abwanderung, aus der eine weltweite polnische und italienische Diaspora entstand. In Deutschland migrierten Männer und Familien polnischer Kultur aus dem preußischen Teilungsgebiet in die Bergwerke und Fabriken des Ruhrgebietes. "Ausländische" Polen, bes. aus dem russischen Teilungsgebiet, arbeiteten bereits in Deutschland, wurden 1885 ausgewiesen, dann aber auf Druck von Landwirtschaft und Industrie wieder zugelassen. Besonders die Junker der ostelbischen Landwirtschaft suchten billige Arbeitskräfte, die nur saisonal im Sommer zu bezahlen waren. Die preußische Regierung war aus nationalistischen Gründen bereit, diese Forderung zu erfüllen. Zugewanderte Polen mussten im Winter das Land verlassen. Dadurch sollte ihre Akkulturation und die Erhöhung des polnischen Bevölkerungsteils im Deutschen Reich verhindert und Bemühungen um Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens unterbunden werden. Der preußische "Kulturkampf" gegen die katholische Kirche nach Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit 1870 war auch ein Kampf gegen polnische Identitäten.

Die süddeutschen Staaten mit ihren mehrheitlich katholischen Bevölkerungen verhielten sich den italienischen Zuwanderern/innen gegenüber liberaler, verlangten auch meist keine Ausreise im Winter. Mit Beginn des 20. Jh. wurden die Kontrollmaßnahmen gegen polnische Arbeitsmigranten immer weiter verschärft. Sie mussten Legitimationskarten tragen, durften ihre Arbeitsplätze nicht wechseln, Arbeiterinnen oder Ehepaare durften ihre kleinen Kinder nicht mitbringen. Im 1. Weltkrieg sollten diese "Fremdarbeiter" ausgewiesen werden, wurden dann aber wegen des hohen Arbeitskräftebedarfs zum Bleiben verpflichtet. Nach Ende des Krieges entstand Polen wieder als Staat, ein erheblicher Teil der "Ruhrpolen" wanderte in sekundären Migrationen in die belgischen und französischen Industrie- und Bergbauregionen. Angesichts des positiven Polenbildes seit den Zeiten der Großen Emigration wurden sie dort weniger diskriminiert. Italienische Migranten wählten Deutschland kaum noch als Ziel.

In Frankreich begann die Zuwanderung von Arbeitskräften als Nahwanderung aus benachbarten Grenzregionen: aus Belgien in die nördlichen Bergwerke und Industriegebiete, aus Deutschland in die linksrheinischen Gebiete, aus Italien nach Südfrankreich. Ohne Zuwanderung wäre die Industrialisierung mangels Arbeitskräften anders verlaufen. In den Jahrzehnten vor 1914 kamen überwiegend hoch qualifizierte Arbeitskräfte für spezielle Wirtschaftssektoren, darunter Italiener vielfach für das Bauwesen. Die golondrinas oder hirondelles kamen wie Schwalben nur saisonal vom Frühjahr bis zum Herbst und kehrten im Winter zu ihren Familien zurück. Migration auf Zeit bedeutet auch immer Zersplitterung von Familien. Kinder wuchsen ohne anwesende Väter auf und zurückbleibende Frauen mussten auch Männerarbeit verrichten. Für die Migranten bedeutete das Leben abwechselnd in zwei (oder mehr) Kulturen die Notwendigkeit, transkulturelle Fähigkeit zu entwickeln, in jeder Kultur mindestens zu "funktionieren", besser aber: zu leben. Sie waren so den mono-kulturellen innerhalb ihrer Grenzen sesshaften Nationalen and Flexibilität und kultureller Kompetenz überlegen. Diese Mobilität und ihre Folgen sind in der europäischen Geschichtsschreibung oft übersehen worden – das Bild der Amerikawanderung hat die vielfältigen innereuropäischen Wanderungen immer überschattet.

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