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'Veränderung der religiösen Landschaft'
 
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Veränderung der religiösen Landschaft

Steht Frankreich heute vor der dritten Stufe der Laizisierung? Diese bestünde in einer "Laizisierung" des Laizismus selbst, der als vierte monotheistische "Religion" Frankreichs definiert worden ist. Gemeint ist damit, was als erster Jean-Jacques Rousseau und später auch US-Soziologen wie Norbert L. Bellah als "zivile Religion" bezeichnet haben: die Vermischung der alten christlichen Überreste mit einer republikanischen, patriotischen Form des Kults (Marianne ist an die Stelle von Maria getreten; der 11. November, der Jahrestag des Waffenstillstands mit dem Deutschen Reich 1918, verstärkt gewissermaßen Allerheiligen usw.). Der Laizismus gründete in der Vergangenheit auf einer großen Wertschätzung der Nation, wie sie die Republik gelehrt hat: basierend auf einem Raum, der durch "natürliche Grenzen" definiert wird; auf einem Heldenkult (von Jeanne d'Arc bis Pasteur); auf einer Sprache, deren Klarheit gefeiert wird; auf einer Aufgabe für die Menschheit. Laizismus und Nation scheinen (bzw. werden de facto) heute jedoch durch den Wandel der Gesellschaft unterhöhlt, die zunehmend Globalisierungsprozessen ausgesetzt ist, auch innerhalb des Aufbaus von Europa, der immer konsumorientierter, verfahrensabhängiger und zugleich extrem liberal wird. In den öffentlichen Schulen gibt es heute weniger überzeugte, treue Anhänger des Laizismus als vielmehr Konsumenten, die nicht davor zurückscheuen, je nach individueller Interessenlage zwischen öffentlicher und privater Schule hin- und her zu wechseln. Die Verkündung eines "Rechts der Schüler" im Jahre 1989 trug zudem zur Schwächung der Lehrerschaft und der Institution Schule bei. Dabei hatten beide 150 Jahre lang eine wesentliche Stütze der Gesellschaft dargestellt, ein Instrument der Integration, das Ausländerkindern ebenso zu schulischem Erfolg verhelfen konnte wie Kindern von Bauern oder Arbeitern. Allgemeiner gesagt: Von einer Gesellschaft, in der Pflichten (und der Moralgrundsatz der Achtung des Anderen) vermittelt und verinnerlicht worden sind, ist man zu einer Gesellschaft übergegangen, in der Rechte behauptet und eingefordert werden (und deren höchste Werte die eigene Erfüllung und der eigene Genuss sind).

Heute beherrscht das Thema Religion auf unterschiedlichste Weise wieder den öffentlichen Raum - entweder im Namen ebendieser Rechte auf Identität und Verschiedenheit (mein Gott ist genauso viel wert wie deine Laizität) oder um die riesigen Lücken zu füllen, die durch die Desillusionierung und den Verlust der weltlichen Religionen entstanden sind: den Marxismus, den Konsumrausch der 1960er Jahre, die Nation, den Laizismus. Seit 20 Jahren sind verschiedene Tendenzen zu beobachten, die Soziologen mit Begriffen wie "Rückkehr der Gewissheiten", "Rache Gottes" oder "Wandlungen Gottes" zu fassen versuchen, um einige Buchtitel aus jüngster Zeit zu nennen. (Anm. 1) Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Revitalisierung des Katholizismus, der am Ende seiner Kräfte zu sein schien, durch die charismatischen Gemeinschaften und Bewegungen und Gemeinschaften; den Aufstieg der Pfingstbewegung; die religiöse "Wiederaufladung" des Judaismus, der teilweise zu "orthodoxen" Glaubenspraktiken zurückkehrt; der Erfolg der "Sekten" und - allgemeiner gesprochen - einer diffusen Religiosität, die im religiösen Herumexperimentieren und Nomadentum, in Glaubensübertritten oder der Attraktivität des Buddhismus zum Ausdruck kommt; und schließlich die starke Ausbreitung des Islam.

Seit circa zwanzig Jahren gibt es eine Reihe von Bewegungen diffuser Religiosität, die charakterisiert sind durch religiöses Herumexperimentieren und Nomadentum, Glaubensübertritte, der Attraktivität des Buddhismus, der massiven Verankerung des Islam in der religiösen, politischen und sozialen Landschaft bis hin zu Scientology oder pseudo-esoterischen Gruppierungen.


Quelle: www.kath.de/bistum/speyer/pr_semin/sekten.htm

Bemerkenswert ist das Misstrauen gegenüber "Sekten" in Frankreich. Dieser Begriff umfasst im Übrigen völlig unterschiedliche religiöse Gemeinschaften, von protestantischen Kirchen oder den Zeugen Jehovas bis hin zu Scientology oder peudo-esoterischen Grüppchen. Frankreich stand nicht-anerkannten Religionen und neuen religiösen Gruppen stets misstrauisch gegenüber und hat immer wieder versucht, Gesetze gegen sie zu erlassen. 1985 und 1996 haben zwei parlamentarische Berichte zu diesem Thema Aufsehen erregt. Der zweite, der so genannte Guyard-Bericht [1] (Anm. 2)  listet 172 "Sekten" auf; er wirkte als regelrechter "Index" und führte zur öffentlichen Stigmatisierung der Sekten. 2001 wollten die Abgeordneten das Delikt der "geistigen Manipulation" in das Strafgesetzbuch aufnehmen, was von der katholischen und protestantischen Kirche scharf verurteilt wurde. In der Tat stellt sich die Frage, wo Selbstaufgabe endet und geistige Manipulation beginnt. Ist es Aufgabe des Gesetzes, die Seele zu erforschen? Das Gesetz vom 12. Juni 2001 (Anm. 3) beschränkt sich auf die mögliche Auflösung jeder juristischen Organisation, "die Aktivitäten durchführt mit dem Ziel oder dem Ergebnis, die psychologische oder psychische Unterwerfung der an diesen Aktivitäten teilnehmenden Personen zu schaffen, zu erhalten oder auszunutzen". Der Begriff "Sekte" ist in Frankreich derart negativ besetzt, dass Soziologen den weniger stigmatisierenden Begriff "neue religiöse Bewegungen" durchzusetzen versuchten.

Geographische Verteilung der Sekten in Frankreich. Laut Guyard-Bericht existieren derzeit 172 Sekten, die als "Mutter-Organisationen" angesehen werden. Zusammen mit den "Tochterorganisationen", die über 800 Zweigstellen betreiben, ergibt sich das Bild einer regelrechten "Sektierergemeinschaft" in Frankreich.


Quelle: www.prevensectes.com/rapportf.htm

Die wichtigste Veränderung der religiösen Landschaft Frankreichs bedeutete jedoch das Auftreten des Islam im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zunächst existierte ein so genannter verborgener Islam, der fast ausschließlich von maghrebinischen Einwanderern (sehr wenige Türken) praktiziert wurde, unverheirateten Männern, die wieder in ihre Heimat zurückkehren wollten. Es war ein "konsularischer", von den maghrebinischen Ländern beherrschter Islam - vergleichbar der Aufsichtsfunktion, die Algerien noch heute über die Moschee von Paris ausübt (diese war 1926 eingeweiht worden, um den Kampf muslimischer Soldaten aus den Kolonien auf Seiten der französischen Truppen während des Ersten Weltkriegs zu würdigen). Die Männer blieben jedoch in Frankreich, ihre Familien zogen nach, Kinder wurden geboren und erhielten die französische Staatsbürgerschaft. Während es 1985 erst drei Millionen Muslime in Frankreich gab, waren es zehn Jahre später bereits vier Millionen. Heute liegt die Zahl zwischen vier und fünf Millionen (dies entspricht etwa 7%, im Vergleich zu 3% in Deutschland); genauere Angaben liegen nicht vor.

Der Islam in Frankreich - Zahl der muslimischen Kultstätten (Moscheen oder Gebetsräume) am 31. Dezember 1999.






Quelle: www.intercarto.com/images/cartes/actualite/islam0.gif

Der Islam hat sich zur zweitwichtigsten Religion in Frankreich entwickelt (die verschiedenen protestantischen Glaubensgruppen, die sich ebenfalls ausbreiten, umfassen über eine Million Personen). Es handelt sich - wie erwähnt - absolut und relativ gesehen um die größte muslimische Gemeinschaft in Europa. In Frankreich besteht zudem die größte jüdische Gemeinde - ein Umstand, der immer wieder starke Spannungen hervorruft, da beide Seiten dazu neigen, den israelisch-palästinensischen Konflikt nach Frankreich zu "importieren"; so hat die Fernsehberichterstattung über die zwei Intifadas einen tiefen Eindruck bei den jungen beurs (d.h. den in Frankreich geborenen Kindern maghrebinischer Einwanderer) hervorgerufen und bei einigen von ihnen einen moslemisch geprägten, populären Judenhass genährt; dieser drückte sich unter anderem in Gewaltakten gegen Synagogen oder jüdische Schulen aus. Auch bei den Kultstätten sprechen die Zahlen für sich: In Frankreich gibt es 38 000 Kirchen und 1 200 protestantische Tempel, aber bereits 1 700 Moscheen und muslimische Gebetsräume (1965: 5, 1985: 922). In Großstädten wie Straßburg oder Marseille wurde jedoch darauf verzichtet, regelrechte "Kathedralenmoscheen" zu bauen (wie dies 1994 in Lyon sowie in verschiedenen Städten der Pariser Region der Fall war). Der Grund ist, wie wir noch sehen werden, die starke Spaltung der muslimischen Gemeinschaft.

Die Lage des Islam in Frankreich:
Derzeit gibt es zwischen 4 und 5 Millionen Muslime bei einer Gesamtbevölkerung von circa 60 Millionen; zwei Drittel der Muslime sind Ausländer unterschiedlichster Nationalitäten. Die französischen Muslime sind vor allem Nachfahren der Harkis (Algerier, die sich im Algerienkrieg auf die Seite Frankreichs gestellt hatten), die in Anwendung der französischen Gesetzgebung (ius soli) die französische Staatsangehörigkeit erhielten.

Quelle:Bild [2] / Text [3]

Diese Präsenz des Islam in Frankreich stellt den Staat und die Gebietskörperschaften vor organisatorische Probleme: Kultstätten und Imame, Finanzierung, Interessenvertretung, Regelungen in Zusammenhang mit Ramadan, Eid-el-Kabir oder dem islamischen Kopftuch sind nur einige Stichworte. Für den laizistischen Staat, vertreten durch den Innenminister (der für die religiösen Gemeinschaften zuständig ist), aber auch in den Augen verschiedener Imame sowie muslimischer Intellektueller und Verantwortungsträger besteht die Lösung in der Schaffung eines Islam aus Frankreich [4] . Die Betonung der Präposition ist keine bloße Sprachspielerei, sondern Ausdruck einer veränderten Stellung des Islam innerhalb der französischen Gesellschaft. Die Aufgabe, diesen Islam aus Frankreich in das französische Konzept der Trennung von Religion und Öffentlichkeit zu integrieren, stellt eine der größten Herausforderungen der Zukunft dar. Diese Konzeption ist genauso wenig antimuslimisch bzw. islamophob, wie sie in der Vergangenheit antikatholisch war - zwar antiklerikal bzw. antiislamistisch, aber nicht antireligiös.

Die Formulierung "Islam aus Frankreich" verweist somit auf ein doppeltes Ziel. Der Staat wünscht eine kollektive Organisation und Vertretung der Muslime in Frankreich als Ansprechpartner, wie Napoléon dies in der Vergangenheit gegenüber den Juden und Protestanten durchsetzte und der Kolonialstaat gegenüber dem Islam in Algerien. Die politisch Verantwortlichen setzen auf die Reformfähigkeit des Islam, der sich in Frankreich wie in ganz Europa in einer vollkommen neuen Lage befindet: in der Rolle einer Minderheit und in einem Kontext allgemeiner Säkularisierung. Langfristig könnte sich ein solcher Islam, der mit dem Staat in Dialog steht, zur fünften "anerkannten Konfession" entwickeln; nicht in einem rechtlichen Sinne wie im 19. Jahrhundert, sondern in einem soziologischen Sinne. Denn noch immer bestehen in Frankreich zwei Arten von Religion, denen die Republik nicht dieselbe Wertschätzung entgegenbringt. Als Vorbild könnte Belgien dienen, das nach dem Modell der anerkannten Konfessionen funktioniert und dem Islam bereits 1974 diesen Status zuerkannte.

Frankreich versucht seit Anfang der 1990er Jahre, eine offizielle Vertretung der Muslime und so einen "gallikanischen Islam [5] " zu befördern, d.h. einen wirklich französischen Islam, der durch eine Art Vertrag an die politischen Institutionen der Republik gebunden ist. Die französischen Regierungen hatten lange Zeit geglaubt, mit der Moschee von Paris [6] einen solchen Ansprechpartner gefunden zu haben; deren Führung ist es jedoch nicht gelungen, den französischen Islam zu vereinigen. Zunächst hatte der damalige Innenminister Pierre Joxe einen Arbeitskreis zum Islam in Frankreich geschaffen (Conseil de Réflexion sur l'Islam en France/CORIF [7] , der 15 Mitglieder umfasste und von 1989 bis 1992 bestand); unter seinem Nachfolger Charles Pasqua wurde im Januar 1995 eine aus 37 Artikeln bestehende "Charta der muslimischen Religion in Frankreich" unterzeichnet. 1999 wurde nach einer landesweiten Befragung der wichtigsten muslimischen Organisationen eine Erklärung mit dem Titel "Prinzipien und rechtliche Grundlagen der Beziehungen zwischen dem Staat und der muslimischen Religion in Frankreich" angenommen. Nachdem muslimische Organisationen und Persönlichkeiten im Dezember 2002 ein Abkommen unterzeichnet hatten, erfolgte schließlich die Gründung des Conseil Français [8] du Culte Musulman; den Vorsitz hat der Rektor der Moschee von Paris inne, die Generalsekretäre der zwei großen, rivalisierenden Verbände - der Union des Organisations Islamiques de France (UOIF [9] , eine 1983 gegründete Organisation, die den Frères Musulmans und den konservativen Golfstaaten nahe steht) und der Fédération Nationale des Musulmans de France (FNMF, eine 1985 gegründete Organisation, die Marokko nahe steht) - fungieren als zweite Vorsitzende.

Die Moschee von Paris, Place du puis de l'Ermite (V. Arr.). Sie wurde von 1924 bis 1926 nach Plänen von Tranchant de Lunel, Generalinspektor für Bildende Kunst in Marokko, gebaut, der sich von den Moscheen in Fez inspirieren ließ. Sie ist Ausdruck der freundschaftlichen Haltung Frankreichs zum Islam und gedenkt der 100.000 Muslime, die 1914-1918 für Frankreich gefallen sind. Der Bau der Moschee wurde staatlich finanziert (Gesetz vom 19. August 1920) und auf einem von der Stadt Paris geschenkten Grundstück realisiert. Die Gründung des Muslimischen Instituts ermöglichte es, das Gesetz von 1905 zu umgehen, das dem Staat eine Subventionierung von Kultstätten untersagt.


Quelle: www.phan-ngoc.com/fred/paris/html/mosquee1.html

Diese langsame "Gallikanisierung" des Islam wird vor allem durch interne Querelen sowie den finanziellen, politischen und religiösen Einfluss mehrerer ausländischer Staaten, von Algerien bis Saudi-Arabien, behindert. In diesen Ländern werden die in Frankreich tätigen Imame ausgebildet (1992 waren es 500); in Frankreich selbst gibt es nur eine private Ausbildungseinrichtung, die 1992 im Departement Nièvre geschaffen wurde. Der protestantische Theologe Etienne Trocmé aus Straßburg schlug 1996 vor, den Konkordatsstatus des Elsass zu nutzen, um an der öffentlichen Universität von Straßburg parallel zu den existierenden Ausbildungsgängen für Protestanten und Katholiken einen Studiengang für muslimische Theologie zu schaffen; dieser sollte denselben wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden. Studenten, die Imame werden wollten, sollten darüber hinaus eine "berufliche" Ausbildung absolvieren. Bisher ist dieses Vorhaben jedoch nicht umgesetzt worden.

Von institutionellen Problemen abgesehen, geht es bei der Frage des "Islam aus Frankreich" auch um die Möglichkeiten der Integration. Die französische Gesellschaft hat in der Vergangenheit massive Einwanderungswellen verkraftet; die Zuwanderer haben sich jedoch in die religiöse Landschaft integriert. So waren etwa Belgier, Polen, Italiener, Spanier und Portugiese Katholiken, Weißrussen und Armenier nicht-katholische Christen. Ashkenasi oder Sepharden gehörten zwar einer vollkommen anderen Religion und Kultur an, schufen aber ein brillantes Integrationsmodell, das nur während des Vichy-Regimes vorübergehend aufbrach. Vor 200 Jahren entschlossen sich die Juden in Frankreich [10] , französische Israeliten oder israelitische Franzosen zu werden: In erster Linie verstanden sie sich als Franzosen (öffentliche Sphäre), erst dann als Anhänger des israelitischen Glaubens (Privatsphäre). Warum sollten die Muslime in Frankreich nicht zu "muslimischen Franzosen" werden, im Namen des französischen Pluralismus? Diese französische Erfahrung des Pluralismus hat sich als lang und schmerzhaft erwiesen, sowohl für die Minderheiten (Protestanten, Juden) als auch zuweilen für die Mehrheit (den Katholizismus unter der Terrorherrschaft), aber letztendlich ist sie gesellschaftlich geglückt und hat zu einer integrierenden Befriedung geführt.

Behindert wird die Integration der Muslime vor allem durch den Streit um den islamischen Schleier. Mit der ersten Kopftuch-Affäre im Herbst 1989 (man sprach damals noch nicht von Schleier) war der Islam in Frankreich überhaupt erst ins Rampenlicht gerückt: Drei Schülerinnen hatten sich geweigert, ihr Kopftuch abzunehmen und wurden daraufhin vom Unterricht ausgeschlossen. Der damalige Erziehungsminister Lionel Jospin bat den Conseil d´Etat, den Staatsrat, um eine Stellungnahme, die am 27. November 1989 erfolgte. (s. Circulaire [11] vom 12. Dezember 1989)(Anm. 4) Der Staatsrat weigerte sich, das Tragen des Kopftuchs prinzipiell zu untersagen. Er definierte aber Grenzen: Die Freiheit, die den Schülern zuerkannt werde, dürfe es ihnen nicht erlauben, "Zeichen einer religiösen Zugehörigkeit zur Schau zu stellen, die aufgrund ihrer Natur, des Kontextes, in dem sie individuell oder in der Gruppe getragen werden, oder durch ihren auffälligen oder fordernden Charakter einen Akt des Zwangs, der Provokation, des Proselytismus oder der Propaganda darstellen […] und die schließlich die Ordnung in der Schule oder die normale Funktionsweise des öffentlichen Dienstes stören". Ein Rundschreiben von September 1994 griff diese Formulierung auf und sprach von "derart auffälligen Zeichen, dass ihre Bedeutung gerade darin besteht, bestimmte Schüler von den Regeln des gemeinsamen Lebens in der Schule zu trennen. Diese Zeichen sind an sich Elemente des Proselytismus…" Das verwendete Adjektiv ostentatoire (auffällig), aus dem später ostensible (ostentativ) wurde, sorgte aufgrund seines subjektiven, ungenauen Charakters für heftige Diskussionen.

Aushändigung des Berichts des Mediators der französischen Republik, Bernard Stasi.
In dem Bericht sind die Arbeiten der Kommission unter seinem Vorsitz protokolliert. Die Kommission hält an dem Laizismus als universellem Grundsatz und republikanischem Wert sowie als Rechtsprinzip fest und setzt sich für eine "Diagnose" und eine Reihe von Vorschlägen ein, die dem Ziel dienen sollen, "einem entschiedenen, einenden Laizismus Geltung zu verschaffen."

Quelle: www.elysee.fr/actus/arch0104/010423/actu.htm

Nachdem mehrere Schulausschlüsse durch Entscheidungen des Staatsrats annulliert worden waren, sich die Konflikte gleichwohl verschärften (bzw. durch die Medien verstärkt aufgegriffen wurden), bestand grundsätzlicher Klärungsbedarf. Ein Ausschuss unter Leitung des ehemaligen Ministers Bernard Stasi legte im Dezember 2003 nach verschiedenen Anhörungen einen Bericht [12] (Anm. 5) vor, der für großes Aufsehen sorgte. Das Gremium schlug fast einstimmig (mit einer einzigen Gegenstimme) vor, ostentative Zeichen "wie großes Kreuz, Schleier oder Kippa" gesetzlich zu verbieten. Der Gesetzestext (Anm. 6), der am 15. März 2004 mit großer Mehrheit verabschiedet wurde, legt Folgendes fest: "In den öffentlichen Schulen ist das Tragen von Zeichen oder Kleidung, durch welche die Schüler ostentativ ihre Religionszugehörigkeit manifestieren, untersagt. Die Schulordnung erinnert daran, dass ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird, dem ein Gespräch mit dem Schüler vorausgeht." Ist nun einfacher als in den Jahren nach 1989 festzustellen, was ostentativ ist? Die Zukunft wird dies erweisen. Die Diskussionen über das bandana-Kopftuch, eine diskretere Form des Schleiers, lassen spitzfindige Auslegungen erahnen, die möglicherweise neue Schwierigkeiten bringen werden.

Der Stasi-Ausschuss machte einen zweiten Vorschlag, der jedoch nicht aufgegriffen wurde: An zwei bedeutenden Feiertagen von Juden und Muslimen, nämlich Jom Kippur und Eid-el-Kabir, sollte die Jugendlichen schulfrei erhalten; mit dieser Neuregelung sollte nach dem Willen des Ausschusses aus dem bisher kaum kaschierten christlichen bzw. katholischen Feiertagskalender ein wirklicher laizistischer werden (so ist der 15. August, Mariä Himmelfahrt, immer noch einer der wichtigsten Feiertage in Frankreich). Tatsächlich richtete sich das Gesetz einzig und allein gegen den islamischen Schleier und darüber hinaus gegen verschiedene Forderungen der muslimischen Bewegungen: etwa die Forderung nach einem nach Geschlechtern bzw. Religion getrennten Unterricht (Sport, Schwimmen, Biologie, Geschichte…), nach dem Recht einer muslimischen Patientin, einen männlichen Arzt abzulehnen, oder aber nach dem Recht einer muslimischen Beamtin, sich zu weigern, einem männlichen Gesprächspartner die Hand zu schütteln. Der Begriff des öffentlichen Raums scheint durch die von Soziologen als "Re-Islamisierung" der Gesellschaft von unten, d.h. durch Imame, Eltern und Schüler, bezeichnete Entwicklung in Frage gestellt.

Kreuz und Schleier in der Karikatur. Kommentar von Jacques Garello: "Ich fürchte, dass die Diskussion um den muslimischen Schleier falsch angelegt ist: Die beiden häufigsten Reaktionen bestehen in Null Toleranz und dem Loblied auf den Laizismus. Für die Einen müssen sich diejenigen, die in unser Land kommen, nicht nur unseren Gesetzen, sondern auch unseren Sitten und Gebräuchen beugen. Frankreich, die älteste Tochter der Katholischen Kirche, erkennt sich im Kreuz wieder, unsere kulturellen Traditionen dürfen nicht durch einen militanten Islamismus parasitär untergraben werden. Für die anderen ist der Laizismus der Republik die beste Antwort auf das Problem: Weder Kreuz noch Schleier."
Sprechblase: "…Na und? Auch ich habe das Recht, sichtbare Zeichen meiner Weltanschauung zu tragen!"

Quelle: www.libres.org/francais/editorial/archives/editorial_1103/voile_islamique_4503.htm

Der Historiker fügt hinzu: Während es heute um den Islam geht, war es vor einem Jahrhundert das Kreuz, das im Namen der laizistischen Republik von öffentlichen Gebäuden entfernt werden musste; und es war der Katholizismus, der diese Maßnahme im Namen der Religionsfreiheit verurteilte. Nun ist der Schleier an die Stelle des Kreuzes getreten; dabei sollte die öffentliche Schule eigentlich ein "unverletzbarer Zufluchtsort" sein, "wohin die Streitereien der Menschen nicht vordringen", wie es schon in einem Rundschreiben des Erziehungsministers der "Volksfront", Jean Zay, aus dem Jahre 1937 hieß. Dass Laizität nicht mit der Ablehnung von Religion zu verwechseln ist, kommt darin zum Ausdruck, dass Frankreich sich nun anschickt, an seinen Schulen einen glaubensübergreifenden Wissensstoff zu vermitteln. Die Trennung von Kirche und Staat besteht seit 100 Jahren. Frankreich bleibt auch weiterhin laizistisch, es wird sich aber der Lebendigkeit des Religiösen sowie der Diskussionen, die um diese Fragen kreisen, wieder in zunehmendem Maße bewusst.

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Anmerkungen

1) Vgl. René Luneau/Paul Ladrière, Le retour des certitudes, Paris 1987; Gilles Kepel, La revanche de Dieu: Chrétiens, juifs et musulmans à la reconquête du monde, Paris 19922; Frédéric Lenoir, Les métamorphoses de Dieu: La nouvelle spiritualité occidentale, Paris 2003.

2) Vgl. Rapport fait au nom de la commission d'enquête sur les sectes, enregistré à la Présidence de l'Assemblée nationale le 22 décembre 1995 (zu finden unter http://recherche.assemblee-nationale.fr [13] ).

3) Gesetz Nr. 2001-504 vom 12. Juni 2001 zum Zweck der Verstärkung der Prävention und Strafverfolgung von Sektenbewegungen, die die Menschenrechte und die grundsätzlichen Freiheitsrechte verletzen. (http://admi.net/jo/20010613/JUSX9903887L.html)

4) Vgl. L'avis du Conseil d'Etat de 1989 (www.senat.fr/rap/l03-2194.html [14] )

5) Vgl. Commission de réflexion sur l'application du principe de la laïcité dans la République. Rapport au Président de la République, remis le 11 décembre 2003, Paris 2003.

6) Vgl. Loi encadrant, en application du principe de laïcité, le port de signes ou de tenues manifestant une appartenance religieuse dans les école, collèges et lycées publics. (Gesetz Nr. 2004-228 vom 15. März 2004, Journal Officiel, Nr. 65, 17. März 2004.) (www.legifrancegouv.fr/Waspad/UnTexteDeJorf?numjo=MENX0400001L).