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'Wirtschaftsbürger und Religionsflüchtlinge vor 1789'
 
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Wirtschaftsbürger und Religionsflüchtlinge vor 1789

Bis zum Aufkommen der nationalen Kulturen wurden Migranten nur sekundär nach ihrer Kultur kategorisiert. Was zählte war Religion und Berufsqualifikation: Eine unerwünschte Version des Christentums war bis ins 17. Jh., z.T. bis ins 18. Jh. Grund zur Vertreibung; ein Berufsstand, der in einem merkantil orientierten Staat nicht ausreichend Fachkräfte vorweisen konnte oder der sich nicht entwickelt hatte, wurde durch Anwerbung von Fachleuten aus benachbarten Kulturregionen ergänzt oder geschaffen. Diese Entwicklungen sind nicht nur für Deutschland und Frankreich belegt. Religionsflüchtlinge kamen und gingen auch aus der deutschsprachigen Schweiz (oft ins Elsass), aus den und in die Niederlanden oder von und nach England.

 Les arcades de l´Aster

 

 

 

 

 

Quelle: www.hamburg.de/Behoerden/Pressestelle/hambourg-france/francais/welcome.htm

Vom 16. Jahrhundert bis zur französischen Revolution wanderten aus dem deutschsprachigen Raum - der sich bis Böhmen erstreckte - Bergleute, Drucker, Handwerker sowie Studenten und Universitätslehrer nach Frankreich. In den deutschen Handwerkergilden war nach Ablegung der Gesellenprüfung Wanderung für mehre Jahre obligatorisch. Sie sollte der Wissenserweiterung und dem Erfahrungsaustausch dienen, aber auch überschüssige Arbeitskräfte zur Abreise zwingen. So lebten in Paris viele deutschsprachige Schuster und Schreiner in ärmlichen Verhältnissen. Diese Männer mit regionalen Identitäten wurden im "Ausland", in Regionen anderer Sprachen, gemäß ihrer Sprache zu "Deutschen". Die Kategorisierung nach sprachlicher, nationaler Herkunft geschah also zur Vereinfachung in der Fremde lange bevor sich in der Ausgangregion ein nationales Bewusstsein entwickelt hatte. Kaufleute einer Herkunftsregion schlossen sich zu Gruppen zusammen, die oft als lat. natio bezeichnet wurden. Eigentlich waren diese Migranten nur Menschen, die aus der gleichen Heimat kamen: com-patriotes.

Glaubensflüchtlinge aus Frankreich in Europa

Quelle: www.hamburg.de/Behoerden/Pressestelle/hambourg-france/francais/inhaltB.htm

Zu berufsbezogenen Migrationen zählte auch Bewerber für den Militärdienst. Wie für andere Berufe suchten Herrscher dafür "Fremde": Als Soldaten wurden Männer aus deutschen Staaten oder Schweizer Kantonen angeworben, in denen mehr männliche Nachkommen geboren wurden als Land zu vererben war. Auch diese "Landsknechte [1] " wurden, wenn nicht speziell als Schweizer Garde organisiert, pauschal als Deutsche bezeichnet. Andere Schweizer Männer wanderten mit ihrer bäuerlichen Expertise, Viehzucht und Milchwirtschaft, in agrarische Regionen. Dort blieben sie die Ausnahme und wurden als "Schweizer" bezeichnet. Kulturelle Vielfalt entstand auch durch Annexion. Als das Elsass im Spanischen Erbfolgekrieg [2] (1701-14) zu Frankreich kam, wurde nicht nur eine deutschsprachige christliche Bevölkerung eingegliedert, sondern auch diejenige jüdischen Glaubens. 70 % der Juden [3] im französischen Staat lebten dort.

Staaten warben für alle Aufgaben, die nicht von einheimischen Untertanen erledigt werden konnten, Arbeitskräfte, Finanziers oder Unternehmer aus benachbarten Staaten an: ungelernte Arbeitskräfte und Wasserbauingenieure für die Trockenlegung von Sümpfen, bes. aus den Niederlanden, aber auch aus Norddeutschland; Unternehmer wie Christophe-Philippe Oberkampf [4] aus der Nähe von Stuttgart für eine Manufaktur "indischer" Stoffe und viele andere. Adelssitze und Bischofsresidenzen zogen Kunsthandwerker an, z.B. deutsche Edelholztischler, Musiker und Komponisten, Goldschmiede, die häufig auch Präzisionsinstrumente bauen konnten. In Baden und Württemberg sind viele Schlösser von französischen Architekten und Baumeistern errichtet worden. Einheiratende Prinzessinnen brachten ihren "Hofstaat" aus der Fremde mit, Unternehmer ihre Dienstboten und Facharbeiter. In Zeiten langsamer Kommunikation durch Boten schickten Kaufmannsfamilien Söhne in die Lehre bei Korrespondenzfirmen in fremden Ländern. Manchmal blieben sie dauerhaft dort, gründeten Familien und Filialen. Migration war schichtenübergreifend (Lequin, La mosaïque, 237-45).

Die Wanderung von Frankreich nach Deutschland war vom Umfang her geringer. Früher als in anderen Regionen Europas entschieden sich Ehepaare in vielen Regionen des katholischen Frankreichs, die Zahl ihrer Kinder zu limitieren. Es entstand keine "Überschuss-Bevölkerung“, die ihr Auskommen anderswo suchen musste. Trotz früher staatlicher Politik zur Erhöhung der Geburtenrate (natalité), standen selbst für die Wanderung in die von der Krone erworbenen Kolonien nicht genügend Männer und Frauen zur Verfügung. Ins nordamerikanische St. Lorenztal, später Quebec, wanderten nicht mehr als 10.000 Männer und Frauen. Wenige ließen sich auf den karibischen Inseln nieder. 1763 verblieben nur die karibischen Besitzungen bei der französischen Krone. Um wenigstens einige Menschen in die verbliebenen Kolonien verschiffen zu können, versuchte die Regierung, die Abwanderung in andere Regionen zu verhindern. Wenige Franzosen schlossen sich der Ostwanderung an, die für die südwestdeutschen bäuerlichen Bevölkerungen von großer Bedeutung war; nur wenige französische Siedler fanden sich im südlichen Ungarn. Französische Hauslehrer und Musikanten lebten an vielen Höfen - wenn Französisch die Sprache der Gebildeten war, musste es auch gelehrt werden (Lequin, La mosaïque, 285-6).

Französisch-Kanada (La Nouvelle France) am Ende des 18. Jh.

Quelle: www.bnquebec.ca/cargeo/htm/TRBA0119.htm

Dieser Austausch war Bereicherung, konnte aber auch in Konkurrenz und Konflikt umschlagen. In solchen Fällen wiesen Herrscher fremdsprachige Mitglieder einer Berufsgruppe aus - oder gewährten ihnen trotz Widerstandes der Bevölkerung Schutz, weil ihre Fähigkeiten und Leistungen unverzichtbar waren. Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass die Migranten keine Fremden im modernen Sinne waren. In ihren Berufen waren sie Zugehörige, sie kommunizierten über eine Freisprache, waren aber nicht Deutsche oder Franzosen, denn eine Staatsanghörigkeit gab es nicht: Die Migranten waren Untertanen des jeweiligen Herrschers, benötigten in den meisten dynastischen Staaten einen Abwanderungskonsens und konnten nach Ankunft ihre Position als Gäste eines Herrschers oder einer Stadt aushandeln. In einem Kontakt wurden dann die gegenseitigen Rechte und Pflichten festgelegt. Am besten bekannt geworden ist dies für die Religionsflüchtlinge, die Hugenotten [5] . Gleiches gilt für aus Italien nach Lyon angeworbene Seidenweber oder für aus dem Harz oder den böhmischen Gebirgen angeworbene Bergleute, die unter dem Schutz der jeweiligen territorialen Herrscher standen und die selbstverständlich ihre Sprache und Bräuche beibehalten konnten.

Tympanon der Französischen Kirche am Soho Square, London. Edward VI. händigt den Glaubensflüchtlingen aus Frankreich die Urkunden aus (1550)

Quelle: www.huguenotsociety.org.uk

Neben der Wanderung zwischen französisch- und deutschsprachigen Regionen, lassen sich auch viele Ab- und Zuwanderungen aus anderen kulturellen Regionen nachweisen: italienische Baumeister, muslimische Bauhandwerker, byzantinische Kunsthandwerker, portugiesisch-jüdische Kaufleute (Sepharden [6] ). Letztere entwickelten ein Handelsnetzwerk von Bordeaux über Amsterdam bis nach Hamburg und von dort über den Altantik ins portugiesische Brasilien. Spezifische Migrationssysteme - Migration in großen Zahlen über einen längeren Zeitraum zwischen miteinander verbundenen ökonomischen Regionen - entstanden aus der Entscheidung von Tausenden von Menschen, ihre Arbeitskraft in fernen Arbeitsmärkten zu verkaufen. Von 1650 bis 1750 verband das französisch-spanische Migrationssystem das Zentralmassiv mit Arbeitskraftüberschuss mit der Mangelregion Madrid und seiner landwirtschaftlichen Umgebung. Migrierende Männer, die sich akkulturierten, heirateten einheimische Frauen oder ließen ihre Familien nachkommen. Ein zweites System war auf Paris und die die Stadt versorgende Landwirtschaft der Île der France gerichtet. Wegen des hohen Bedarfs an weiblichem Dienstpersonal für Hof und Bürgertum waren an diesem System beide Geschlechter beteiligt. Frauen aus dem Bürgertum stellten in großer Zahl zugewanderte Ammen aus dem ländlichen Umland ein. (1) Nach 1750, mit der ökonomischen Krise der iberischen Gesellschaften und der Verlagerung der Macht und der kolonialen Ausbreitung in die Gesellschaften des westlichen Europas, endete das französisch-spanische System. Mit dem Aufstieg der Niederlande wanderten deutsche und französische Männer in den Dienst der niederländischen Ostindischen Kompanie [7] . Die Land-Großstadt-Migrationen blieben erhalten: Paris zog weiterhin Migranten und Migrantinnen an und die Hafenstadt Marseille entwickelte einen Arbeitskräftebedarf, der ebenfalls nur durch Zuwanderung zu decken war.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: unter den anciens regimes waren Menschen mobil und Mobilität wurde im Interesse des Staates bzw. des Herrschers gefördert oder behindert. Die Massenmobilisierung der Zeit der französischen Revolution und der anschließenden napoleonischen Expansionskriege sowie die beginnende Industrialisierung nach 1815 veränderten Wanderungsprozesse tiefgreifend.

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Anmerkung

  1. Leslie Page Moch, Moving Europeans: Migration in Western Europe since 1650 (Bloomington, 1992), 22-59.