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'Menschen in kulturellen Regionen, Territorien, Staaten: Von Vielfalt zu Nationen'
 
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Menschen in kulturellen Regionen, Territorien, Staaten: Von Vielfalt zu Nationen

Kulturelle Regionen, territorial-dynastische Einheiten und Gesamteuropa waren verbunden durch ein Netz von wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Kaufleute und Universitätslehrer wanderten über große Entfernungen, Händler und Studierende über mittlere. Auch die christlichen Kirchen transferierten Personal unterschiedlicher kultureller Herkunft über große Entfernungen. Angesichts der Sprach- und Dialektvielfalt wurden einzelne Sprachen zu europaweiten Kommunikationsmedien: das Norditalienisch-Toskanische und später das Französische im Bereich von Wissenschaft und Hochkultur; die deutsche Sprache im Bereich von Handwerk, Bergbau und früher Technik; das Lateinische in Wissenschaft und katholischer Kirche; der jiddische Dialekt des Deutschen im Kleinhandel, dies allerdings eher ostwärts denn westwärts.

Solche linguae francae - Freisprachen - ermöglichten den Austausch materieller Güter und immateriellen Wissens, Brauchtums und religiöser Glaubenspraktiken über große Entfernungen in einer Zeit, als viele Menschen ihr Leben fast ausschließlich in regionalen Kontexten planten und führten. Über die Flüsse, Rhône und Rhein, bewegten sich Menschen und Handelsgüter, über den Messeweg [1] von dem hoch urbanisierten Oberitalien über Genf nach St. Denis bei Paris und weiter in die ebenfalls hoch urbanisieren Niederlande, bzw. auf dem Landweg von St. Denis und Brüssel über Köln, Frankfurt/Main, Leipzig nachKrakau [2] . Die Gebiete, die wir heute als Frankreich und Deutschland bezeichnen, waren Teil einer integrierten europäischen Lebenswelt, die erst durch dynastische Vorherrschaft und die Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert in abgegrenzte Einheiten auseinander geteilt wurde. Der Weg ins neue Europa um 2000 ist somit auch eine Wiederaufnahme eines alten integrativen Konzeptes.

Langues régionales

 

 

 

  Quelle: www.lexilogos.com/france_carte_dialectes.htm

In den Jahrhunderten vor Entstehung der Nationalstaaten erreichten Migranten Regionen, in denen die Einheimischen sich ihrer kulturellen Identität und Lebensformen - beides moderne Ausdrücke - bewusst waren, aber nicht als Deutsche oder als Franzosen, sondern als lokal in einer Region verankert. Die im 19. Jahrhundert erfolgte pauschalisierende Bezeichnung als "Deutsche" oder "Franzosen" fasst jeweils Menschen einer Sprache zusammen, einer Hochsprache, die viele von ihnen gar nicht zusätzlich zu ihrer lokalen Sprache sprechen oder verstehen konnten. In Frankreich waren die Sprecher des Okzitanischen [3] im Süden, die der albigensischen [4] und waldensischen [5] Variante des christlichen Glaubens anhingen, schon im 13. Jh. gewaltsam durch Kreuzzüge [6] vertrieben oder integriert worden in das Gebiet der langue d'oil [7] sprechenden römisch-christlich orientierten Herrscher. Auch die Sprecher des bretonischen [8] Keltischen und des Baskischen [9] wurden franzisiert.

 Carte de France des voies navigables

 

 

 

Quelle: www.france.diplomatie.fr/label_france/FRANCE/REGION/eau/carte.html

Das Territorium des Staates, der später Frankreich wurde, wurde in Kriegen oder durch Heirat erweitert oder verkleinert - "un effet d'accordéon". (1) Überlange Zeiträume umfasste es Gebiete, die von einer in London residierenden Dynastie verwaltet wurden, das spanische Roussillon und französisch-deutsch gemischte Regionen. In dem Schmelztiegel des mittelalterlichen Galliens, schrieb ein französischer Historiker in den 1980er Jahren in Reaktion auf Behauptungen über eine "reine" Kultur und Bevölkerung, vermischte sich die einheimische gallo-römische Gruppe mit germanischen gotischen, fränkischen, alemannischen und burgundischen Zuwanderern, mit keltischen Bretonen, mit Gascognern aus den Pyrenäen und mit Normannen aus Skandinavien. Teil der Bevölkerung wurden auch die in kleineren Zahlen kommenden Juden, Syrer, Griechen, sächsische Bergleute, irische Flüchtlinge und iberische Migranten. Ausgeprägte regionale Kulturen und Zugehörigkeiten entstanden: Bourgogne, Normandie, Aquitaine, Gascogne, Flandern, um nur einige zu nennen. (2) Mit der Vertreibung der Hugenotten [10] im 17. Jh. nahm die religiöse Vielfalt innerhalb des Herrschaftsgebietes der Bourbonen ab, in ganz Europa nahm die sprachliche Vielfalt durch die Eingliederung der Französisch sprechenden Flüchtlinge zu.

Sprachen und Dialekte Okzitaniens – Beispiel für die Vielfalt der Regionalkulturen

Quelle: occitanet.free.fr/oc/geodom.htm

Ähnlich viel-kulturell war die Bevölkerung der Gebiete, die später Deutschland genannt wurden. Das Reich der Hohenstaufen [11] wurde in historischer Tradition wegen der Ausdehnung bis nach Sizilien, einer konstruierten Kontinuität zum alten Rom und der Verbindung zum römischen Papsttum "heiliges" und "römisches" Reich" genannt. Palermo in Sizilien war der Sitz des multikulturell aufgewachsenen und mehrsprachig gebildeten Friedrich II (r. 1210-50). Der Zusatz "deutscher Nation" folgte erst um 1475 aber anfangs einerseits nur als Kennzeichnung der "deutschen Lande" im multi-ethnischen Reich, andererseits aber auch, um einen Hegemonieanspruch gegenüber sprachlich anderen Regionen zu erheben. (3) Das Reich [12] , das sich nach und nach auf Zentraleuropa verkleinerte, umfasste auch nicht alle Regionen mit Menschen der deutschen Dialektfamilie: Die deutschsprachigen Eidgenossen waren Teil der Gründer der Schweiz (1291); angesichts von Pogromen und anderen Verfolgungen wanderten Sprecher des deutsch-jiddischen Dialektes und israelitischen Glaubens (Ashkenazim) in großen Zahlen ostwärts ab und siedelten sich in polnischen und russischen Gebieten an. Schließlich bedurfte es eines Machtwortes Napoleons, um die Kleinstaaterei zu verringern und das Erste oder "Alte" Reich aufzulösen (1803, 1806). Ein weiteres Machtwort, diesmal Bismarcks, schloss vom 2. Reich (1871) die deutschsprachige regionale Kultur der "Österreicher" aus Gründen der Konkurrenz um die Kaiserkrone zwischen Habsburger- und Hohenzollern-Dynastie aus. Die in viele Dialekte unterteilte deutschsprachige Bevölkerung Zentraleuropas vermischte sich in den ostelbischen Gebieten mit Menschen slawischer Sprachen und Kulturen, in dem baltischen Wirtschaftsraum mit vielfältigen skandinavischen Gruppen, mit friesisch und romanisch sprechenden Gruppen im Westen und Süden. In ganz Europa war kulturelle Vielfalt selbstverständlich bis zur Unterbrechung durch den Nationalstaat und die von den bürgerlichen Trägerschichten erhobene Forderung nach kultureller Einheit.

Die Verbindung von Nation und Staat, die für Migranten entscheidende Konsequenzen haben sollte, verlief im revolutionären Frankreich und dynastischen Deutschland gegensätzlich. Die Betonung der politischen Bürgerrechte, maskulin-generisch droits des hommes, in der französischen Sprache aber mit citoyen et citoyenne auch geschlechtspezifisch ausgedrückt werden können, hob die Gleichheit aller im staatlich-politischen Raum hervor. In den deutschsprachigen Regionen hingegen hob politisches Denken die Vielfalt kultureller Gruppen hervor. Im Reich der Habsburger entstand das Konzept des "Vielvölkerstaates". In den östlich des Deutschen Bundes gelegenen Zuwanderungs- und kulturellen Mischgebieten und im östlichen Teil des Habsburger Reiches [13] lebten neben den einheimischen slawischen und magyarischen Gruppen zahlreiche über die Jahrhunderte zugewanderte Menschen deutscher Sprache. Hier, wo Vielfalt die Regel war, entwickelte - noch unter dem Einfluss der Aufklärung - der bi-kulturelle balten-deutsche Johann Gottfried Herder [14] (1744-1803), der später in einer spezifischen Regionalkultur im mittleren Teil Deutschlands lebte, auf der Basis empirischer Beobachtung ein Konzept von eigenständigen und gleichberechtigten Kulturen und Sprachen der Völker der Region. Für die kulturellen Ausdrucksformen der Menschen jedes dieser Völker forderte er nicht nur Respekt, sondern hielt sie auch je für sich wertvoll und imperialer Verbesserung nicht bedürftig. Dies Konzept hätte die Basis für einen modernen Multikulturalismus bilden können. (4)

Mit der Ausprägung des französischen Staates, dessen Einigung und Zentralisierung durch die Dynastien weit zurück lagen, und der Entwicklung der deutschen Staaten, in denen die Dynastien zersplittert und die Einheit durch das einheimische, nationale Bürgertum gefordert wurde, wurde Staat verbunden mit Nation: National-Staat bedeutete Gleichheit vor dem Gesetz - aber nur unter der Voraussetzung gleicher Kultur. Ungleiche oder Fremde wurden in die Position einer "Minderheit" herabgedrängt oder ausgeschlossen.

Territorialstruktur Frankreichs und Deutschlands 1806 im Vergleich

Quelle: www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_III/Geschichte/w98vsmm46.html

Zu den kulturellen Rechten, die im Übergang vom dynastischen Staat mit korporativen Strukturen und Sonderrechten für einzelne Gruppen und Untertanenverbände zum homogenisierten Nationalstaat verloren gingen, gehörten für Minderheiten und Zuwanderer das Recht auf eigene Sprache und kulturelle Praktiken. Die Einführung einer nationalen Hochsprache ermöglichte Kommunikation und Handel über große Entfernungen ohne Mittelsleute mit speziellen kulturellen Kenntnissen. Sie bevorzugte aber diejenigen, die dieses speziellen, zur nationalen Norm erhobenen Dialektes mächtig waren, und benachteiligte all diejenigen, die andere Dialekte oder Sprachen - wie das Plattdeutsche oder Bretonische - hatten, und gliederte sie als "Minderheit" aus, obwohl die Anderssprachigen im eigenen historischen Siedlungsgebiet meist die Mehrheit bildeten. Ebenso benachteiligt wurden Menschen, die als Migranten mit anderer kultureller Prägung hinzu kamen. Zum Ende des 19. Jh. wurden Bewohner wie Zuwanderer durch ein neues Kontrollsystem, das Passwesen [15] , an die Territorien gebunden und mussten bei Ein- und Ausreise, Aus- und Einwanderung Pässe vorzeigen, in denen ihnen oft nur ein begrenztes Aufenthaltsrecht als Visum eingestempelt wurde. Da sie kulturell nicht Mitglieder der Nation waren, brauchte ihnen der Staat keine Gleichheit zuzugestehen. Der nationale Verfassungsstaat umging so das Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz und schaffte Bewohner minderen Rechtes. (5)

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Anmerkungen

  1. Marc Augé, Un ethnologue dans le métro (Paris, 1986), 18.
  2. Robert-Henri Bautier, "Le 'Melting Pot' de la Gaule du Haut Moyen Age," in Jacques Dupâquier et al., Histoire de la population française, vol. 1: "Des origines à la Renaissance" (Paris, 1988), 123-70,  409-15.
  3. Maximilian Lanzinner, "Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation", in Michael Henker et. al., Hg., Bavaria - Germania - Europa: Geschichte auf Bayrisch (Augsburg, 2000), 21-33.
  4. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784-91.
  5. David Held, Democracy and the Global Order. From the Modern State to Cosmopolitan Governance (Stanford, 1995), 29-140; John Torpey, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State (Cambridge, 2000); Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte: Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (Darmstadt, 1998), 1-41, 80-111.