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'1789-1815: Mobile Revolutionäre, Flüchtlinge, Massenmobilisierung von Soldaten'
 
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1789-1815: Mobile Revolutionäre, Flüchtlinge, Massenmobilisierung von Soldaten

Mit Beginn der Revolution in Frankreich veränderten sich die Migrationsstrukturen. Der Niedergang des höfischen und kirchlichen Marktes für Dienstleistungen und Luxusgüter führte zur Abwanderung von Handwerkern und einigen Fabrikanten sowie von weiblichem wie männlichem Dienstpersonal. Dann begann die Flucht der adligen Schichten, der Kleriker und von Anhängern des ancien régime im weitesten Sinne. Adlige wandten sich in die deutschen Staaten zu Verwandten, andere zogen in die Niederlande oder nach Spanien. Nach 1791 wurden Mainz und Koblenz Zentren des Exils. Nach der Verstaatlichung der Kirchengüter flohen Angehörige des Klerus in andere katholische Staaten Europas oder bauten, wie die Sulpiciens [1] , ein Netzwerk über London ins französisch-katholische Quebec auf. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung verließen weniger Gegner der als blutig beschriebenen Revolution nach 1789 Frankreich als britische Loyalisten [2] das als friedlich beschriebene revolutionäre Amerika nach 1776. Circa 129,000 Flüchtlinge (oder 5 per Tausend Bevölkerung) kamen in den umliegenden europäischen Gesellschaften an. Ihre Rückkehr begann unter dem Regime Napoleon Bonapartes ab 1802.

United Empire Loyalists landing at the site of Saint John, New Brunswick, 1783. New Brunswick was largely created by the flow of Loyalists into the region. Print by John David Kelly (1862-1958), before 1935.

 

 


Quelle: www.canadianheritage.org/reproductions/20073.htm

Umgekehrt reisten zahlreiche Liberale und Demokraten, Publizisten und Gelehrte nach Paris, um das Geschehen aus der Nähe zu beobachten. Sie konnten Mitglieder des revolutionären Konvents werden, für die Freunde der Freiheit gab es keine Grenzen mehr. Andererseits vertrieben dynastische Regimes Anhänger der Revolution und so kamen Schweizer, Belgier und Niederländer als demokratische Flüchtlinge nach Frankreich. Unter dem terreur allerdings wurden manche von ihnen der Spionage oder der Sympathie für das bürgerliche marais verdächtigt und zeitweise verhaftet (1793/94). Von der Periode desterreur [3] abgesehen, war die Revolution ähnlich kosmopolitisch wie der ihr vorangehende dynastische Staat. Nach dem Sieg der anti-revolutionären Koalition europäischer Herrscherhäuser wurden jedoch die Grenzen wieder hergestellt. Von dieser Zeit an kamen politische Flüchtlinge aus vielen Staaten Europas in das monarchische Frankreich, dessen Bild aber von der Freiheitssymbolik bestimmt blieb.

Exekution in der Periode des terreurs (1793/94)

Quelle: www.lsg.musin.de/Geschichte/gesch_Karten/karten_rom.htm

Tiefgreifende Änderungen in Mentalitäten begannen mit den Revolutionskriegen [4] ab 1792. Der französische Freiheitskampf sollte von freien Bürgern in die Nachbarstaaten getragen werden (levée en masse). Dort mobilisierten die dynastischen Herrscher ihrerseits die Bevölkerungen unter dem Schlagwort: "gegen die französische Fremdherrschaft". Damit begann nach dem ersten religiös motivierten Dreißigjährigen [5] der 2. Europäische Krieg. Nationale Massenmobilisierungen verlagerten die Diskussionsebenen: aus einem Kampf politischer Bürger (und Bürgerinnen) für Freiheit wurde ein Kampf für ein napoleonisch-imperiales Frankreich, bzw. für nationale Selbstbestimmung - die allerdings mit dem Wiener Kongress 1814/15 in Wiederherstellung der Dynastien und nicht in der Schaffung freiheitlicher bürgerlicher Nationalstaaten endete. In Frankreich wurden zugewanderte "Fremde", die doch politisch Gleichgesinnte waren, wieder von der politischen Beteiligung ausgeschlossen.

Die Kriege bedeuteten, neben Zerstörung und Tod, auch Kulturkontakt, Massenzüge von Soldaten, 600.000 auf dem Weg nach Moskau oder russische Biwaks in Paris, 1814. Ab 1804 wurden wieder Söldner angeheuert, befreundete und besetzte Staaten mussten für die napoleonischen Armeen Soldaten ausheben. Armeen bestanden aus Franzosen, Italienern, Niederländern, Schweizern, Österreichern, Preußen und Männern anderer deutscher Staaten und Regionen. Nach den Niederlagen Napoleons [6] blieben versprengte Reste der Truppen zurück und wurden Teil der lokalen Bevölkerungen. Spanische Kriegsgefangene, auf fast 60.000 geschätzt, wurden nach Frankreich deportiert, spanische Flüchtlinge ließen sich nieder. Unfreiwillige kriegsbedingte Mobilität endete in vielen Fällen in Sesshaftigkeit in der Fremde. Kultureller französischer Einfluss in Russland und im russischen Teilungsgebiet Polens führte in den auf den Krieg folgenden Jahrzehnten zu einer Europäisierung von großen Teilen der Oberschichten, zur Hinwendung zu französischer Kultur, Literatur und Sprache. Diese Frankophilie überlagerte den vorangehenden Einfluss deutschsprachiger zugewanderter Kaufleute, Offiziere und Administratoren.

Biwak russischer Truppen auf den Champs-Élysées, März 1814

Quelle: Lequin, La mosaïque, 324

Die nationale Rhetorik, der Bedarf an Soldaten und der Aufstieg des Bürgertums führten nicht nur zur Nationalisierung der Kriegsführung sondern auch zur Nationalisierung von Kultur. Gotthold Ephraim Lessing [7] (1729-81), der für Toleranz eingetreten war (Nathan der Weise [8] , 1779), wendete sich gegen die französische "Überfremdung" der Literatur. Am Ende der Massenmobilisierung und der neuen Ideen stand ein neues, teils reaktionäres, teils republikanisch-fortschrittliches Europa. Die Periode der Industrialisierung veränderte das Migrationsverhalten der Gesellschaften Deutschlands und Frankreichs nachhaltig.