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'Osteuropapolitik: deutsche Präsenz, französische Abwesenheit'
 
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Osteuropapolitik: deutsche Präsenz, französische Abwesenheit

Deutschland ist, ganz anders als Frankreich, in Osteuropa kulturell, politisch und ökonomisch seit Jahrhunderten präsent. Seien es der Deutschritterorden im Baltikum seit dem 13. Jahrhundert, die Gründung Königsbergs, die Deutschen im Zarenreich, in Siebenbürgen [1] , in Polen, die dominierende Stellung Preußens, die Verbindung mit der Habsburger Monarchie im Süden. Für die mittelosteuropäischen Staaten war die geographische Lage zwischen zwei großen Zivilisationen und politischen Mächten - Deutschland und Russland - über Jahrhunderte hinweg der bestimmende Faktor. Das Dritte Reich führte unbeabsichtigt das Ende der deutschen Präsenz in vielen osteuropäischen Staaten (3) herbei und belud den deutschen Staat mit einer nicht wiedergutzumachenden Schuld, die fortan seine Politik prägen sollte, so die Beziehungen zu Osteuropa. Deutschland und die Staaten Osteuropas können sich ein mangelndes Interesse für den jeweils anderen nicht erlauben: Ereignisse bei den geographischen Nachbarn betreffen stets auch den anderen. Brandts neue Ostpolitik, so umstritten sie zu Anfang der 1970er Jahre auch war, wurde in den beiden Jahrzehnten vor dem Fall der Mauer zum Grundprinzip jeder deutschen Politik, ganz gleich ob sozial- oder christdemokratischer Prägung.

Abbildung 4:

Deutschland nach 1949 war im Osten durch hermetische Grenzen gekennzeichnet, die erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs überwunden wurden.

 

 

Internet-Quelle [2]

Ganz neue Möglichkeiten der Kooperation eröffneten sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs [3] und dem Ende der hermetischen Trennung von Ost- und West, dem Ende einer Grenze, die durch Deutschland verlief. Die Anrainer dieser Grenze wandelten sich von Objekten der Supermächte zu Subjekten einer neuen europäischen, auch internationalen Politik. Rasch und schon während der Perestrojka [4] (1985-1991) entstanden intensive Kontakte zwischen Deutschland und den Nachfolgestaaten des Ostblocks, insbesondere mit Polen, der Tschechoslowakei (und dann der Tschechischen Republik), den baltischen Staaten und Ungarn. Dabei spielten die in Deutschland im Exil lebenden Angehörigen der betreffenden Staaten - von Baltendeutschen wie dem ersten deutschen Botschafter in Riga, Graf Lambsdorff, bis zu baltischen Exilanten wie Andrejs Urdze und Egils Levits - in der ersten Stunde eine herausragende Rolle, sie bildeten eine Brücke zwischen den Kenntnissen von gestern und dem Niemandsland von heute.

Abbildung 5:

Die Vorstellung des "riesigen Deutschen" in England. Anlässlich des Besuchs des britischen Premierministers in Bonn im Mai 97 zeichnete der Karikaturist Riddell dieses Cartoon eines nach seinem Wahlsieg selbstbewussten Blair, auf dessen Knie mit verkniffenem Gesicht der damalige deutsche Bundeskanzler Kohl sitzt.

 

 

 

Internet-Quelle [5]

Misstrauisch beobachteten Frankreich und England die neue deutsche Ostpolitik [6]  und die damit einhergehende Verlagerung der europäischen Achse vom Rhein an die Oder, wie es schien. Eine britische Karikatur aus dem Jahr 1991 zeigte Margaret Thatcher neben Helmut Kohl sitzend, mit der Sprechblase "Nehmen Sie Platz, Sie riesiger Deutscher! Sie machen alle nervös!" während Kohl antwortet "Ich sitze bereits!" (4) Die unilaterale und im Vorfeld nicht abgestimmte deutsche Anerkennung der jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien und Slowenien im Dezember 1991 konnte die anti-deutsche Stimmung nur verschärfen, ebenso wie die deutsche Hochzinspolitik 1992/93, die Frankreich zum Anhänger der europäischen Währungsunion werden ließ (5). Osteuropa, so schien es, stand bis zur Mitte der 1990er Jahre unter einem Primat der Beziehungen zu Deutschland innerhalb Europas. Deutschland war Anwalt bei der Osterweiterung, während Frankreich sich mit den südlichen EU-Staaten in einer Allianz der Skeptiker verband, - nicht zuletzt hinsichtlich der befürchteten Auswirkungen der Erweiterung auf die Gemeinsame Agrarpolitik (6).

Abbildung 6:

1991 wurde das Weimarer Dreieck [7] gegründet, das fortan die Basis für die deutsch-französisch-polnische Kooperation darstellt. Seither finden regelmäßig auf höchster ebene Konsultationsgespräche statt. Das Bild zeigt u.a. Staatspräsident Jacques Chirac (2.v.l.), den Präsidenten der Republik Polen, Aleksander Kwasniewski (Mitte), und Bundeskanzler Gerhard Schröder (2.v.r.)

Internet-Quelle [8]

Eine Sonderrolle in der west-ost-europäischen Gemengelage kam von Anfang an den Beziehungen Deutschlands und Frankreichs zu Polen zu. In Mittelosteuropa ragte und ragt Polen schon seit 1919 heraus, seit der Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit im Ausgang des Ersten Weltkriegs. So ist es nicht überraschend, dass ihm Frankreich die Rolle einer fünften europäischen Großmacht zudachte, und dass das Frankreich der Zwischenkriegszeit die Zusammenarbeit mit Polen zum Herzen seiner Osteuropapolitik machte. Eine Politik allerdings, die aufgrund der regionalen Konflikte Polens, so seiner Feindschaft mit Litauen aufgrund der Besetzung von Vilnius (7), keinen Erfolg zeitigen sollte. Die Vorstellung von einem polnischen Primat in Osteuropa wurde und wird von keinem anderen osteuropäischen Staat akzeptiert, das Misstrauen gegenüber polnischen Hegemoniebestrebungen war und ist groß. War Frankreich eines der wichtigsten Länder in der Unterstützung für Polen in Solidarnosc [9] - und Kriegsrechts-Zeiten (8), so zog es sich nach 1991, wie es schien, stärker zurück. Gemeinsam mit Deutschland und Polen begründete es 1991 das Weimarer Dreieck [10] , als europäischer Motor, der auf der deutsch-polnisch-französischen Kooperation beruhen sollte und sich als Antwort auf die neue Konstellation in Europa wissen wollte. Trotz regelmäßiger Gipfeltreffen ist diesem Verbund allerdings eine überragende Bedeutung bis heute nicht zugekommen. Darüber hinaus hat insbesondere die Sonderrolle Polens seit Beginn des Irak-Kriegs das Verhältnis der drei Staaten starken Belastungsproben ausgesetzt (9).

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Anmerkungen

(3) 1940 verordnete Hitler die Umsiedlung der Baltendeutschen in die Posener Gegend. Die meisten Deutschen Mittelosteuropas wurden zum Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westen vertrieben oder flohen vor der nahenden Roten Armee. Verbliebene wurden nach Sibirien oder Zentralasien deportiert.

(4) "Sit down, you big German! You are making everybody very nervous!" Kohl "I'm already sitting". In: "The Guardian" 1991.

(5) Die deutsche Hochzinspolitik 1992/1993 zwang die anderen Mitgliedstaaten der EU früher oder später zur Anpassung und verhalf dem Philanthropen Soros zu spektakulären Börsengewinnen gegen die britische Staatsbank. Frankreich gab fortan einer Währungspolitik mit Mitspracherecht im europäischen Rahmen den Vorzug vor einem faktischen deutschen Primat, wie man es empfand.

(6) Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU verbraucht die Hälfte des EU-Budgets und ist Gegenstand eines seit Jahren anhaltenden Streits zwischen denen, die sie reformieren wollen - Deutschland insbesondere - und denen, die auf ihrem Besitzstand beharren. Der Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten schafft insofern neue Probleme, als eine bedingungslose Übertragung der Subventionen zum Kollaps des EU-Budgets führen würde. So wurde beschlossen, 2004 den neuen Mitgliedern 25 Prozent der derzeit geltenden Subventionen zukommen zu lassen, ab 2007 40 Prozent und ab 2013 - dem Zeitpunkt, zu dem man hofft, reformiert zu haben - 100 Prozent.

(7) Vilnius, Hauptstadt des 1919 gegründeten litauischen Staates, wurde 1921 von Polen besetzt. Alle diplomatischen Beziehungen zwischen Litauen und Polen wurden abgebrochen, und der Konflikt verhinderte jede Kooperation in Mittelosteuropa. Faktisch stellt Vilnius ein wichtiges kulturelles Zentrum dreier Nationen dar: Der Litauer, der Polen und der Weißrussen, um nicht die Juden Osteuropas zu vergessen.

(8) Für die Bundesrepublik Deutschland war die Unterstützung der Solidarnosc politisch nicht unproblematisch, brachte es sie doch in den Verdacht einer revanchistischen Politik.

(9) Siehe zum Thema etwa Kühnhardt, L., Ménudier,H., Reiter, J.: Das Weimarer Dreieck. Die französisch-deutsch-polnischen Beziehungen als Motor der Europäischen Integration. Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Discussion Paper, C 72, Bonn 2000.