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'Eine westliche Demokratie werden'
 
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Eine westliche Demokratie werden

Eryck de Rubercy: Denken Sie, Frankreich ist sich nun darüber bewusst, dass seine Pläne nur verwirklicht werden können, wenn es das neue politische Gewicht Deutschlands seit der Wiedervereinigung anerkennt?
   
Brigitte Sauzay: Von französischer Seite ja, und die Deutschen haben begriffen, dass sie schwerlich, eigentlich gar nicht über die positiven Beziehungen zu Frankreich hinweggehen können. Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler hat deutlich gemacht, was in Deutschland seit 1998 geschehen ist, d. h. seit Deutschland wieder vollberechtigt Politik machen kann. Denn seit Deutschland dieser vollberechtigte politische Akteur geworden ist, hat es etwas getan, was in Frankreich nicht immer ausreichend verstanden worden ist. Es hat das letzte Wegstück zurückgelegt, das ihm fehlte, um eine westliche Demokratie mit vollen Rechten zu werden. So hat Deutschland das ius soli akzeptiert und damit eine Vorstellung von der "Nation" im Sinne von Ernest Renan, derzufolge es nicht nur eine Frage der ethnischen Herkunft ist, ob man Deutscher ist oder nicht. Deutschland hat auch einige laizistische Elemente im Hinblick darauf übernommen, wie der Staat funktioniert. Beispielsweise hat der Kanzler nicht auf die Bibel geschworen und gesagt: "So wahr mir Gott helfe". Auf die Frage, warum er dies getan habe, hat er lediglich geantwortet, seine religiösen Überzeugungen wären eine Sache, und wenn er als Kanzler einen Eid spreche, dann würde er schwören, alles in seiner Macht stehende für sein Land zu tun; dies habe nichts mit seinen religiösen Überzeugungen zu tun. Winkler stellte also fest, dass sich Deutschland seit 1998 endgültig von allen Sonderwegen verabschiedet hat. Ebenso hat es sich von jeder Form der Unterstützung verabschiedet, die bisher den Forderungen von Minderheiten eingeräumt worden sind, beispielsweise der Sudeten. Bayern, die CSU und sogar die CDU haben zu diesem Thema immer eine sehr zweideutige Haltung eingenommen und den Minderheiten stets die Hoffnung gelassen, dass zwar nicht die Grenzen, aber doch zumindest die Eigentumsverhältnisse jenseits der Grenze wieder in Frage gestellt werden könnten. In diesem Zusammenhang war jenes Deutschland nun eindeutig und hat ein für alle Mal erklärt: "Ein verlorener Krieg ist ein verlorener Krieg, und wir haben keinerlei Forderungen in Hinsicht auf verlorene Gebiete." Das ist sehr wichtig für uns, denn es ist mit diesem Deutschland leichter zu leben, mit einem Deutschland, das definitiv erklärt hat, dass es ein modernes Deutschland in dem Sinne ist, wie Frankreich eine moderne Republik. Das ist in Frankreich wenig zum Ausdruck gebracht worden, vielleicht weil die SPD dieses Thema besetzt hat, das bei uns ein Thema des Konsenses wäre: ich möchte nicht einmal sagen der Mitte, sondern des Konsenses, denn in der Französischen Republik denken die Rechte und die Linke über dieses Thema in gleicher Weise. Die deutsche Rechte hat eine rückschrittliche Haltung eingenommen, indem sie gegen ein Gesetz ankämpft, das den Rechtsbegriff, Deutscher zu sein, von der ethnischen Abstammung abkoppelt, oder indem sie gewisse Minderheiten unterstützt; das sind beides Kämpfe, die die französische Rechte nie geführt hätte. Die deutsche Rechte stimmt also heute, im Jahr 2003 nicht mit der französischen Rechten überein. So wie einige Franzosen, die Ihnen sagen, dass sie konservativ sind, bei einer Reise in die Vereinigten Staaten selbstverständlich den Demokraten näher stehen würden als den Republikanern, kann man davon ausgehen, dass sich ein rechtsgerichteter Franzosen, ein Mitglied der UMP (Union pour un Mouvement Populaire, Volksbewegungsunion), der sich in Deutschland aufhält, fragen würde, wo er seine politische Zugehörigkeit finden könnte.
   
Eryck de Rubercy: Bleibt die Französische Revolution der große Gründungsmythos?
   
Brigitte Sauzay: Auf jeden Fall. Man könnte sagen, dass Deutschland im Moment die letzte Etappe zurücklegt, um alle aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Werte zu übernehmen.
   
Eryck de Rubercy: Als Kohl und Mitterrand gemeinsam den EU-Vertrag von Maastricht durchsetzten, haben sie in gewisser Weise das von de Gaulle und Adenauer begründete und von Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt fortgesetzte politische Programm vollendet. Worin besteht nun das Programm des deutsch-französischen Gespanns Chirac-Schröder, das die uns bevorstehende europäische Zukunft prägen könnte?
   
Brigitte Sauzay: Ich glaube, das ist recht klar: Es handelt sich um die politische Organisation Europas. Wenn Sie sehen, welche Rolle die verschiedenen deutschen Kanzler gespielt haben, dann haben Sie Adenauer, der Deutschland rehabilitiert und in den Westen eingebunden hat; danach haben Sie Erhard, der dem Land wirtschaftliche Stabilität gegeben hat. Kiesinger hat nicht besonders gezählt. Brandt wiederum hat Deutschland an den Osten herangeführt. Schmidt hat zusammen mit Giscard Europa wieder angekurbelt. Kohl hat dank Mitterrand die Wiedervereinigung und den Euro bewerkstelligt. Falls Schröder sich die Frage stellt, wie er in die Geschichte eingehen kann, dann liegt auf der Hand, was zu tun bleibt: den Schlussakkord setzen, d. h. die politische Organisation aufbauen. Er war es übrigens, daran wird kaum erinnert, der den Vorschlag für diesen Konvent gemacht hat, weil der Gipfel von Nizza die Grenzen der Regierungszusammenarbeit aufgezeigt hatte und deshalb eine Form politischer Organisation gefunden werden musste, die zum Teil auf Vorschlägen der Zivilgesellschaft basiert. Und als der deutsche Außenminister Joschka Fischer zum ersten Mal in der Berliner Humboldt-Universität von einer Verfassung für Europa gesprochen hat, gab es in Frankreich zunächst eine große Stille. Dann haben die französischen Politiker die Idee aufgenommen und erst später, als Staatspräsident Chirac zu einem offiziellen Besuch nach Berlin reiste, hat er selbst das Wort Verfassung in den Mund genommen. Es liegt also auf der Hand: Die Aufgabe Schröders und Chiracs besteht darin, das Werk zu vollenden, nämlich Europa mit einer politischen Organisation auszustatten.
   
Eryck de Rubercy: Aber wenn es darum geht, die europäischen Institutionen zu reformieren, zeigen die Reden der Politiker oft sehr deutlich, dass Frankreich und Deutschland andere Zukunftsträume haben. Glauben Sie, dass dieser Unterschied im politischen Denken die letzte Trennlinie der beiden Länder ist, weil der deutsche Begriff der Nation nicht mit dem des französischen Nationalstaates übereinstimmt?
   
Brigitte Sauzay: Ja, dieser Unterschied birgt viele Schwierigkeiten, ist evident und groß, und er müsste mit einem Kompromiss überwunden werden. Sie haben gesehen, dass man zurzeit versucht, einen gemeinsamen Text zu erarbeiten, und zwar nicht nur über die politische Organisation Europas, sondern auch über die wirtschaftliche Steuerung. Die große Meinungsverschiedenheit zwischen Deutschland und Frankreich besteht darin, dass Frankreich immer von einem stärker durch die Regierungsebene geprägten Europa geträumt hat, Deutschland dagegen von einem stärker föderal geprägten. Dies entspricht der Geisteshaltung der beiden Länder, ihrem genius loci. Jeder weiß das und ich denke, dass man sicher noch Zeit benötigen wird, um hierüber eine Vereinbarung zu treffen. Dieser Unterschied zwischen Politik der Regierungsebene und Föderation findet sich übrigens auf dem gesamten Weg des Aufbaus von Europa wieder.

Eryck de Rubercy: Bis heute hat man wohl glauben wollen, dass "Deutschland und Frankreich der Kern Europas sind", wie Victor Hugo in seinem berühmten Bericht von der Reise auf dem Rhein im Jahr 1841 geschrieben hat. Aber wird ein erweitertes Europa nicht schrittweise das ursprüngliche Vorhaben der europäischen Integration entstellen?
   
Brigitte Sauzay: Nein, ich denke nicht. Ich denke doch, dass der Ausdruck von "der Revanche für Jalta", den Pascal Lamy benutzt hat, ziemlich richtig ist. Schließlich sind dies Länder, – wenn ich das sage, klingt es sehr hochmütig und sehr französisch - die in unserer Einflusssphäre gelebt haben, aber es ist etwas Wahres daran, denn es sind Länder, die mit uns durch die Geschichte verwandt sind. Polen und Ungarn oder die Tschechische Republik sind Länder, die uns nahe stehen und mit denen wir, sowohl Franzosen als auch Deutsche, immer Verbindungen gehabt haben, und ich denke, dass Deutschland und Frankreich (wir kommen auf das zurück, was wir eben gesagt haben), diese Rolle der Gestaltung spielen. Und vor allem muss man im Auge behalten, dass der Grund, weshalb Europa von seiner halbseitigen Lähmung als Folge von Yalta geheilt worden ist, die magnetische Anziehungskraft war, die von der deutsch-französischen Verständigung ausging. Hätte es diese deutsch-französische Verständigung nicht gegeben, hätte es kein Europa gegeben, nicht dieses Zentrum an Vitalität, Reichtum, Freiheit, das die anderen Länder extrem angezogen hat, das sie auf unsere Seite gebracht hat. Es besteht kein Grund, warum dies aufhören sollte.
   
Eryck de Rubercy: Der Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, hat erklärt, dass "es für Europa keine Zukunft ohne eine starke Allianz von Deutschland und Frankreich gibt". Das war vielleicht richtig, aber gilt das heute noch?
   
Brigitte Sauzay: Ja, im Übrigen glaube ich, dass die sogenannten "kleinen Länder" zuweilen unter dieser Dominanz ebenso leiden wie unter dieser Achse (und sie bezeichnen sie manchmal mit unangenehmen Ausdrücken). Aber wenn es keine Einigung zwischen Deutschland und Frankreich gibt, leiden sie ebenfalls.
   
Eryck de Rubercy: Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland litten lange an einem gewissen Ungleichgewicht. Heute sind beide Länder mit ähnlichen Problemen konfrontiert: Arbeitslosigkeit, Überschwemmungen, Rinderwahn, Atommüll. Meinen Sie, dass diese Schwierigkeiten letztlich gewisse Unterschiede in den Zivilgesellschaften einebnen?
   
Brigitte Sauzay: Ja, ganz bestimmt. Aus diesem Grund habe ich 1993 das Berlin-Brandenburgische Institut für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa (BBI) gegründet, damit die Menschen sich dort treffen können und damit die Zivilgesellschaften gewahr werden, wie sehr die Probleme sich überall ähneln, die sie eben genannt haben, aber auch jene im Zusammenhang mit Einwanderung, der Situation der Frauen, der Euthanasie, der ethnischen Zugehörigkeit. Ich denke, dass wir immer mehr feststellen werden, dass wir eine Wertegemeinschaft sind und dass wir daher gemeinsam nachdenken müssen, welche Positionen wir in einer globalisierten Welt einnehmen möchten, in der unsere Werte nicht zwangsläufig mit denen der anderen übereinstimmen. Wir sind keine fundamentalistischen Christen, wie dies sehr häufig in den Vereinigten Staaten der Fall ist; wir sind auch keine Völker ohne transzendente Vorstellungen, wie dies bei den asiatischen Völkern der Fall ist; wir sind keine Moslems. Endlich ist klar, dass wir etwas gemeinsam haben. Im Übrigen fällt auf, dass auf die Frage, was die europäische Kultur ausmacht, niemand mit einer Definition antworten kann, während das europäische Zugehörigkeitsgefühl immer mehr zunimmt. Ich würde sagen, das liegt seit dem 11. September auf der Hand, aber es war schon in Kioto bei den Umweltverhandlungen offensichtlich. Das gleiche gilt für den Irak. Ich glaube, dass sich zurzeit der europäische Staatsbürger entwickelt.
   
Eryck de Rubercy: In Frankreich ist man auch irgendwie zufrieden, ja fast erfreut, den Deutschen vorwerfen zu können, dass sie die Haushaltsgrenzen nicht einhalten, während dies dreißig oder vierzig Jahre umgekehrt gegolten hat.
   
Brigitte Sauzay: Ja, in der Tat. Dennoch denke ich, dass es für uns schade ist, denn es ist besser ein wirtschaftliches Zugpferd zu haben als das Gegenteil. Aber von der psychologischen Warte aus gesehen, ist es hervorragend, weil dadurch die Franzosen einige Wahrnehmungsstörungen verlieren werden, die sie hatten, wenn sie Deutschland betrachteten, auch bereits vor dem wirtschaftlichen Handikap der Wiedervereinigung. Sie hatten immer den Eindruck, dass Deutschland sehr stark, sehr mächtig sei, bereit, sie an die Wand zu drücken, während Deutschland all jene Probleme hatte, die man heute sieht, die aber nicht wahrgenommen worden sind. Den Deutschen tut das auch nicht schlecht, denn sie waren es derart gewöhnt, die Klassenbesten zu sein, dass sie gerne Lektionen erteilten. Schließlich tut es ihnen gut zu sehen, dass kein System immer und ewig perfekt ist.

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