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'Deutsch-französische Wirklichkeiten'
 
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Deutsch-französische Wirklichkeiten

Eryck de Rubercy: 1997 wurde im Pariser Petit Palais die Ausstellung "Marianne / Germania" gezeigt, die zuvor in Berlin zu sehen war. Darin wurden die jeweiligen patriotischen Darstellungen in ihrer historischen Entwicklung einander gegenüber gestellt, nationale Vorurteile und Stereotypen über Frankreich und Deutschland angesprochen. Worin besteht Ihrer Ansicht nach noch heute das Misstrauen zwischen beiden Ländern? 
   
Brigitte Sauzay: Das gibt es sicher noch, hat sich aber deutlich abgeschwächt. Zwischen Deutschland und Frankreich existiert dieses Verhältnis von Ablehnung und Faszination nicht mehr, oder gar Hass und Faszination, das es lange Jahre gab. Der Nationalismus hat in beiden Ländern ebenfalls stark abgenommen. Aber man muss darauf hinweisen, wie übrigens schon Heinrich Heine, dass der französische Nationalismus nie mit dem deutschen identisch war. Es ist interessant, diese beiden Nationalismen miteinander zu vergleichen, denn sie sind sehr unterschiedlich. Heute jedoch leiden wir eher an der Gleichgültigkeit, die die beiden Länder füreinander empfinden. Wenn Sie mir die Frage nach dem Misstrauen stellen, dann handelt es sich viel eher um ein "wieder aufgewärmtes Misstrauen" als um etwas Lebendiges, das immer existieren wird und auf Klischees gründet, die, wie alle Klischees, ein Körnchen Wahrheit besitzen. Eines ist sehr gut: Seit es Deutschland wirtschaftlich etwas weniger gut geht, haben die Franzosen einen Grund weniger, vor Deutschland Angst zu haben.
   
Eryck de Rubercy: Die aufrichtige Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist letztlich getragen worden durch den Willen, nie mehr gegeneinander Krieg zu führen. Diese Frage scheint der Vergangenheit anzugehören. Wie sehen sie das?
   
Brigitte Sauzay: Ich glaube, es gibt eine Sache, die wirklich gut von beiden Ländern verinnerlicht worden ist, vielleicht stärker in Frankreich als in Deutschland, dass nämlich eine Schicksalsgemeinschaft zwischen den beiden Staaten besteht. Wenn Sie einen Franzosen fragen, welches Volk Frankreich am nächsten steht, mit welchem Volk die Franzosen ihre Zukunft aufbauen, ist man erstaunt, dass jeder antworten wird, dies sei Deutschland. Die Franzosen sind sich darüber bewusst, dass Europa nicht das wäre, was es ist, wenn es die deutsch-französische Freundschaft nicht gegeben hätte. Aber zugleich wissen sie nichts darüber, was Deutsche denken, träumen, essen, noch was sie spielen, während sie alles wissen, was Italiener tun, und zwar in allen Bereichen, obwohl sie davon ausgehen, dass sie mit ihnen nicht ihre Zukunft aufbauen werden. In der deutsch-französischen Freundschaft gibt es also eine Art Paradoxon. Sie ist, wenn Sie so wollen, eine etwas platonische Freundschaft, aber deshalb nicht weniger stark.
   
Eryck de Rubercy: Genügt es Ihrer Ansicht nach nicht, mitunter das Gegenstück der Eigenschaften zu suchen, die den Deutschen zugeschrieben werden, um ein Phantombild der Franzosen zu erstellen?
   
Brigitte Sauzay: Nein, das denke ich nicht. Es handelt sich um zwei sehr starke Kulturen, die aber nicht zwangsläufig gegensätzlich sind, obwohl sie sich oft, Sie haben Recht, im Gegensatz zueinander entwickelt haben. Es ist beispielsweise sehr schwer, die deutsche Romantik oder die deutsche Nationalbewegung zu verstehen, ohne mit einzubeziehen, ohne zu sehen, dass dies von Napoléon herrührt, eine Reaktion der Deutschen auf die französische Literatur ist. Wenn die Deutschen Shakespeare so sehr bewundert haben, dann auch deshalb, um sich von der französischen Literatur abzugrenzen. Sicher gibt es eine Reihe von Gegensätzen, Sie haben Recht. Aber wenn Sie einmal sehen, was ein Franzose macht und von dieser Zeit an ein Deutscher, sagen wir einmal Luther für die Deutschen und Descartes oder Pascal für die Franzosen, dann sind dies, so glaube ich, zwei Entwicklungen, bei denen es eine gewisse Resonanz aufeinander gibt, die aber unabhängig voneinander und auf beiden Seiten kulturell so stark und so prägnant für Europa sind, dass es zwangsläufig für die Deutschen und die Franzosen sehr schwierig ist, miteinander zu leben. Übrigens gilt dies selbst für ganz pragmatische Dinge: Die Deutschen werden Ihnen sagen, dass es sehr einfach ist, mit jedem zu arbeiten, nur nicht mit einem Franzosen, und die Franzosen werden Ihnen sagen, dass Sie mit jedem arbeiten können, mit Amerikanern oder Chinesen, aber nicht mit Deutschen. 

Eryck de Rubercy: Jedoch hat sich offenbar nach und nach der Gedanke durchgesetzt, der schlagwortartig formuliert lautet: "Unsere Stärke liegt in unseren Unterschieden", und dass Deutschland und Frankreich aufgrund ihrer großen Unterschiede dazu prädestiniert sind, die Rolle der Wegbereiter des Europäischen Konvents zu spielen.
   
Brigitte Sauzay: Ja, da haben Sie vollkommen Recht. Da es zwei sehr starke Kulturen sind und zwei Kulturen, die innerhalb der gleichen Zivilisation existieren, sind sie zusammen in der Lage, nahezu alles, was es in Europa gibt, zu gestalten. Wenn sich Deutschland und Frankreich einigen, handelt es sich im Allgemeinen um einen Kompromiss, der für alle anderen akzeptabel ist.
   
Eryck de Rubercy: Man spricht oft von Krisen, Missverständnissen, Divergenzen, Spannungen und Meinungsverschiedenheiten (diese Wörter kehren am häufigsten wieder) in den deutsch-französischen Beziehungen. Welche Gründe sprechen dafür, dass sich die Länder zufriedenstellend ergänzen?
   
Brigitte Sauzay:
Ich meine, dass die Schwierigkeiten der Vergangenheit angehören. Seit den letzten Wahlen, d. h. seitdem die Dinge politisch klar sind, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich, und seitdem man weiß, wer an der Macht ist, haben die beiden Länder sehr gut begriffen, dass es in ihrem jeweiligen Interesse liegt, sich mit dem anderen gut zu verstehen. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass Deutschland und Frankreich (dies gilt nicht unbedingt für England) ein Interesse an einem starken Europa haben, das nicht nur eine Freihandelszone sein soll. In dem Maße, in dem sie ein gemeinsames Interesse haben, werden sie Methoden finden, ihre Interessen in Übereinstimmung zu bringen, selbst wenn sie keine identischen Vorstellungen von einem starken Europa haben.
   
Eryck de Rubercy: Haben nicht sogar die Krisen letztlich die Europäische Union gestärkt und vorangetrieben, indem sie Gelegenheit und Grundlage dafür boten, dass wieder Schwung in das Projekt kam?
   
Brigitte Sauzay: Aber nein! Auf einige Krisen hätte man sehr gut verzichten können. Manche gegen Ende der 1990er Jahre waren vollkommen überflüssig. Sie entstanden, weil die Franzosen nur schwer akzeptieren konnten, dass sich Deutschland weiterentwickelte, und weil sie keine Nachsicht gegenüber den Ungeschicklichkeiten zeigten, die Deutschland bei dem Versuch beging, seine neue Souveränität umzusetzen. Die Franzosen sind von dem, was 1998 in Deutschland geschah, überrascht worden. Kohl war für die Franzosen in derart umfassender Weise Synonym für Deutschland geworden und er verkörperte für die Deutschen so sehr die deutsch-französischen Beziehungen, dass seine Abwahl auf der französischen Seite Bestürzung auslöste und auf der deutschen Seite Erleichterung. Die Deutschen neigten dann dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Weil Kohl diese deutsch-französische Realität verkörpert hatte, weil man ihm gegenüber einen gewissen Überdruss empfand und schließlich zu etwas Neuem übergehen konnte, gab es die ersten Monate nach seinem Abtritt in Deutschland eine gewisse Tendenz, etwas anderes zu tun, als eine deutsch-französische Politik fortzuführen, die als zu Frankreich-treu empfunden wurde. Kohl wurde vorgeworfen, dass er zu Frankreich-treu gewesen sei, und es dauerte, ich würde sagen bis zu dem Gipfeltreffen von Nizza, bis sich die Dinge beruhigten. Seit Nizza hat sich die Situation wieder normalisiert.

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