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'Die Entstehung nationaler Kategorien im territorialen Ancien Régime'
 
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Die Entstehung nationaler Kategorien im territorialen Ancien Régime

Moderne Staaten und ihre nationalen Grenzen haben eine Geschichte, die politisch, wirtschaftlich und kulturell bis in die Gegenwart wirkt. Die Entstehung des heutigen Europa ist auf das engste verknüpft mit seiner Geschichte seit dem 16. Jh., in dem die europäischen Länder und Territorien sich erst staatlich zu formen begannen. Bildliche Darstellungen Europas und seiner Territorien aus dem 16. Jahrhundert [1] veranschaulichen solche vor-nationalen Betrachtungsweisen.

Abbildung 1:

Sebastian Münster,
"Mappa Europae"
,
Frankfurt/M. 1536

 

 

(im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin)

Nationale Kategorien, wie sie im heutigen europäischen Denken geläufig sind, bilden sich europaweit im Verlauf des 16. und 17. Jh. heraus, avancieren im 18. Jh. schließlich zu Leitkonzepten, die das politische Handeln steuern. Diese Entwicklung mündet in der nationalstaatlichen Aufteilung Europas mit festen Grenzen im 19. Jh. Erst im 21. Jh. scheinen Politikkonzepte, die sich am klassischen Nationalstaat ausrichten, an Wirkkraft zu verlieren. Wirtschaftliches und politisches Handeln sogenannter NGO (non govermental organisations) rücken dagegen mehr und mehr in den Vordergrund [2] .

Abbildung 2:

"Carte D'Europe"
Dressé pour l´usage de Roy sur les Itinéraires anciens et modernes et sur les Routiers de mer asujéties aux observations astronomique ...
par G. Delisle, premier géographe de l´Académie Royale des sciences à Paris 1724

(im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin) 

Die im Verlauf des Nationalisierungsprozesses (16.-18.Jh.) Schritt für Schritt wirksamer werdenden politischen Kräfte führten letztlich zu territorialen Grenzkonkurrenzen zwischen den europäischen Mächten, die ihre nationalen Interessen seit den Entdeckungen des 15. u. 16. Jh. mit dem Kampf um überseeischen Landbesitz verbanden, und daher begannen, ihre Auseinandersetzungen um die sich herausbildenden Nationalstaaten nicht nur zu Lande, sondern nun auch zu Wasser [3]  zu führen. 

Im Wiener Kongress [4]  1815 hat diese Entwicklung ihren ersten Höhepunkt erreicht: ein nationalisiertes Europa war entstanden, das Nation und Nationalstaatlichkeit zum sozialen, politischen und kulturellen Leitstern erhoben hatte. Trotzdem haben lokale, geographische und kulturelle Faktoren, die in einem vornationalen Europa wurzeln ihre Wirkkraft nie ganz verloren. Die historischen Darstellungen der großen europäischen Flüsse - wie etwa der Rhein [5]  - mit ihrer supranationalen Geographie bieten hier ein gutes Beispiel. 

Der Einfluss dieser verschiedenen historischen Komponenten (Nationalität, Territorialität, Lokalität) auf das heutige Europa und die politische Struktur seiner Länder und Staaten erweist sich klar, wenn man heute Frankreich mit Deutschland, mit Österreich oder mit der Schweiz vergleicht. Während die politischen Karten Frankreichs einen nach Departements gegliederten Zentralstaat ausweisen, zeigen die Darstellungen der Bundesrepubliken Deutschland und Österreich eine föderale Gliederung, die mit der schweizerischen Struktur vergleichbar ist, deren kantonale Aufteilung das föderale Prinzip aber am wirksamsten werden lässt [6]

Diese Unterschiede in der politischen Binnengliederung dieser Staaten und Länder (zentral oder föderal) sind nicht das Resultat neuerer Politik. Vielmehr sind sie das Ergebnis lang andauernder historischer Prozesse, die weit ins Mittelalter zurück reichen. Denn während sich nach der mittelalterlichen Aufteilung des europäischen karolingischen Herrschaftsgebietes in ein östliches und ein westliches Territorium im Westen starke, zentralisierende Kräfte bemerkbar machten, die im 16. Jh. den französischen Staat zu formen begannen, hatten sich durch die Territorialisierungen [7] in den östlichen Gebieten spätestens seit dem 13. Jh. dezentral wirkende Machtfaktoren entfalten können, die der Herausbildung eines zentralen Staates auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation entgegenstanden.

Abbildung 3:

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation um 1580

 

 

 

 

 

 

 


Internet-Quelle [8]

Die Partikularität der politischen Struktur prägt das Erscheinungsbild des heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation [9] . Aufgeteilt in geistliche und weltliche Fürstentümer, große und kleine Herrschaften, durchsetzt mit freien Reichsstädten und reichsunmittelbaren Herrschaften der Reichsritterschaft bietet die politische Karte des Reiches im 16. Jh. das Bild eines komplexen Gefüges, dessen größere Territorien sich zu modernen Staaten umzubilden begannen. Das Reich setzte sich aus unterschiedlichen Herrschaften und Territorien zusammen, die sich nach Reformation und Säkularisation nach außen und im Innern zu staatlichen Gebilden umbildeten.
Dieser vielfältige Verstaatlichungsprozess beschleunigte sich im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges von 1618-1648, an dessen Ende die politische Neuordnung Europas durch den Westfälischen Frieden [10] von Münster und Osnabrück stand.

Abbildung 4:

Mitteleuropa zur Zeit des Westfälischen Friedens 1648

 

 

 

Internet-Quelle [11]

Nach den Friedensschlüssen hatten die Niederlande und die Schweiz ihre Unabhängigkeit vom Reich erlangt, die österreichischen Habsburger traten ihre Rechte an Gebieten im nunmehr französischen Elsass ab, während die deutschen Länder weitgehende politische Souveränität erhielten. Innen- und außenpolitisch souverän, verfügten diese zumeist über längere Zeit von einer Dynastie regierten Länder über eine zunehmend rationalisierte Verwaltung mit einem relativ gut aufgebauten Steuersystem, ein stehendes Heer und einen Hof, der die herrschaftliche Zentrale repräsentierte. Die bis heute gut erhaltenen Schlösser im baden-württembergischen Ludwigsburg [12] , Karlsruhe [13]  oder Stuttgart [14]  sind hierfür anschauliche Beispiele [15] .

Abbildung 5:

Schloss und Stadtanlage von Karlsruhe

 

 

 

Internet-Quelle

Geschlossene Staatswesen im modernen Sinne bildeten diese Länder trotzdem nicht. Denn neben den Organen und Institutionen der Landesherren existierten traditionelle ständische Gremien, die Einfluss auf die Steuererhebungen ausübten. Dieses Steuerbewilligungsrecht erlaubte es den Landständen, an der Regierung des Landes mitzuwirken und gleichzeitig ihre partikularen Sonderinteressen zu vertreten.

Abbildung 6:

Das Ständehaus in Karlsruhe: Historische Außen- und Innenansicht

Internet-Quelle (Abb.6a)
Internet-Quelle [16]  (Abb.6b)

Die Bedeutung der frühneuzeitlichen Stände bestand aber nicht nur in der Durchführung von Landtagen und in der Wahrnehmung des Steuerbewilligungsrechts. Darüber hinaus verfügten die einzelnen Stände, d.h. der niedere Adel, die Geistlichkeit und die Städte in ihren Herrschaftsgebieten über gesonderte Rechte wie beispielsweise die niedere Gerichtsbarkeit und/oder Grund- und Leibherrschaft. Da diese Herrschaftsrechte zumeist lokal beschränkt waren und sich nur ausnahmsweise auf ein geschlossenes Territorium bezogen, konkurrierten die lokalen Herren ebenso untereinander wie sie in Konkurrenz mit ihren Landesherren standen, die wiederum ihr eigenes Gebiet arrondieren und ihre Rechte auf Kosten der Landstände ausdehnen wollten. Diese Konkurrenz erzeugte Überschneidungen im praktischen Herrschaftsvollzug, die die traditionell gemischten rechtlichen und territorialen Verhältnisse stärkten und so im Zentrum Mitteleuropas ein plurales politisches Gefüge schufen. Auf dieser Grundlage haben sich im weiteren historischen Prozess starke lokale Orientierungen herausbilden können, die im Strudel der nationalen Strömungen des 19. Jh. untergegangen sind oder sich nach und nach zu regionalen Zuordnungen umgebildet haben. In postnationalen Zeiten wie diesen ziehen die pluralen frühneuzeitlichen Gesellschaften mit ihren partikularen politischen Strukturen wieder Aufmerksamkeit auf sich. In einem Europa, das auf offenem wirtschaftlichem und kulturellem Austausch basiert, gewinnen im Kontext zunehmender Globalisierung Konzepte von Translokalität politische Aktualität.