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'Mitteleuropa: Ein diffuser Begriff'
 
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Mitteleuropa: Ein diffuser Begriff

"Mitteleuropa" ist ein diffuser Begriff, der sich weder geographisch noch politisch noch kulturell eindeutig verorten lässt. Sein geographischer Geltungsbereich war seit jeher unbestimmt und an den Rändern äußerst unscharf. Dies ist, mit den eben genannten Einschränkungen, auch heute noch so. In politischer Hinsicht hat er sehr unterschiedlichen Zielsetzungen und Bestrebungen als Unterpfand gedient, und er lässt sich auch keineswegs nur einem politischen Lager, etwa jenem eines universalistisch orientierten Katholizismus, zurechnen. Allerdings ist er in aller Regel in einer diffusen Gemengelage mit großdeutschem Denken aufgetreten und diente zunächst der Rechtfertigung der Ausdehnung deutschnationaler Herrschafts- oder doch zumindest Vorherrschaftsansprüche auch auf fremdnationale Territorien in Südost- und Ostmitteleuropa. Bis 1918 wenigstens, und wohl noch darüber hinaus, war er konzentriert auf jenen Kulturraum, in dem das deutsche Element oder doch jedenfalls deutsch orientierte - wenn auch keineswegs immer deutschstämmige - kulturelle Eliten den Ton angaben. Die der vormodernen Entwicklung, vornehmlich des hohen und späteren Mittelalters, aber noch der Ansiedlungspolitik österreichischer Kaiser entstammende Existenz deutscher Volksgruppen in vielen Regionen Osteuropas diente den Mitteleuropa-Konzeptionen unterschiedlichster Observanz dabei als ein zusätzlicher Ansatzpunkt. Ihre vielfach dominante Rolle innerhalb der noch völlig hierarchisch strukturierten vormodernen Gesellschaften Osteuropas gab, so schien es, eine zusätzliche Rechtfertigung dafür ab, den Deutschen - natürlich nicht im heutigen, sondern in dem weit gespannten vormodernen Sinne, wie er auch in der Nomenklatur des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" seinen Niederschlag gefunden hatte - in "Mitteleuropa" eine Führungsrolle zuzuweisen, auf kulturellem und auf wirtschaftlichem, aber auch auf politischem Felde.

Abbildung 3:

Die der vormodernen Entwicklung, vornehmlich des hohen und späteren Mittelalters, aber noch der Ansiedlungspolitik österreichischer Kaiser entstammende Existenz deutscher Volksgruppen in vielen Regionen Osteuropas diente den Mitteleuropa-Konzeptionen unterschiedlichster Observanz dabei als ein zusätzlicher Ansatzpunkt.

(Kartenquelle: Stier, Hans-Erich (Hrsg.) u.a.: Völker und Kulturen, Darmstadt 1956)

Internet-Quelle [1]

Für Constantin Frantz [2]  beispielsweise war "Mitteleuropa" ein übernationaler Ordnungsbegriff für eine politische Kultur, die die Traditionen des christlich-abendländischen Europa fortführen sollte; in dieser sollte das deutsche Element im kulturellen, keinesfalls aber im nationaldeutschen Sinne eine Vorrangstellung einnehmen, ja mehr noch, dieser seine Prägung verleihen. Dies war freilich völlig unvereinbar mit der Begründung eines deutschen Nationalstaats, die Constantin Frantz denn auch mit seltener Konsequenz als grundsätzlich falschen Weg bekämpft hat" (4). Für Frantz war schon 1848 klar, dass es darauf ankomme, die Polen und die Donauslawen dazu zu bringen, sich nicht Russland, sondern Deutschland (inklusive des Kaiserreichs Österreich) anzuschließen, weil sonst Asien bis an die Elbe reichen werde (5). Frantz verwies demgemäß die preußische Politik nachdrücklich auf den Weg einer Verständigung mit Polen, wie er umgekehrt die historische Aufgabe Österreichs in der Begründung eines festen Verhältnisses mit den südosteuropäischen Völkern sah. Im Hintergrund stand seine Prognose, dass Europa langfristig mit dem Aufstieg neuer Großreiche zu rechnen und diese zu fürchten habe, nämlich Russland im Osten und den Vereinigten Staaten von Amerika jenseits des Ozeans.

Abbildung 4:

Die politischen Strukturen "Mitteleuropas" von 1815 bis 1866

 

 

 

Internet-Quelle 

Auch im liberalen Lager hatte die Mitteleuropaidee zahlreiche Anhänger; allerdings trat hier der Gedanke der Verständigung der deutschen mit den slawischen Nationalitäten, den Frantz mit bemerkenswertem Scharfblick in den Mittelpunkt seiner Erwägungen über eine mögliche mitteleuropäische Ordnung gerückt hatte, mehr oder minder stark zurück hinter der optimistischen Annahme, dass die anderen Volksgruppen den Führungsanspruch der Deutschen auch im eigenen Interesse zu respektieren bereit sein würden. Die Mitteleuropaidee trat hier in einer eigentümlichen Verschmelzung mit der großdeutschen Idee auf. Schon Friedrich List [3]  hatte die Vision eines "auf dem engen Bündnis der beiden deutschen Großmächte Preußen und Österreich beruhenden, deutsch geführten Mitteleuropa mit Hamburg und Triest als den beiden großen Hafenstädten" beschworen (6).

Die liberale Nationalbewegung nahm dergleichen Überlegungen mit großer Begeisterung auf; schon vor der Revolution von 1848/49 war der Gedanke, dass der künftige großdeutsche Staat bis zum Schwarzen Meer und bis nach Konstantinopel ausgreifen werde, in liberalen Kreisen weit verbreitet, wenngleich in sehr unbestimmten, verschwommenen Formen. Auch die Abgeordneten der Paulskirche begeisterten sich anfänglich für den Beruf der deutschen Nation, wie dies Heinrich von Gagern [4]  ausdrückte, "deutsche Gesittung längs der Donau zu tragen" (7). In einem deutsch geführten Mitteleuropa, das in ein enges Bündnisverhältnis zu Ungarn treten müsse, sahen die 1848er ein Bollwerk zwischen Slawen und Romanen, das eine weltgeschichtliche Rolle zu spielen haben werde. Die "Deutschen" Österreichs sollten dabei gleichsam eine Brücke zwischen den Kerngebieten Deutschlands und den südosteuropäischen Völkern spielen (8). Dabei war freilich den wenigsten klar, dass eine großdeutsche bundesstaatliche Neuordnung, die die Deutschen Österreichs als gleichberechtigte Bundesglieder einbezog, obschon dies die Auflösung der Donaumonarchie oder doch zumindest deren Reduzierung zu einer Macht zweiten Ranges bedeutet haben würde, mit dem Bestreben unvereinbar war, deren bisherigen Großmachtstatus in Südost- und Südeuropa gleichsam zu beerben und auf den künftigen deutschen Nationalstaat zu übertragen. Ganz im Gegenteil, die Erwartung war weit verbreitet, dass auf dem Verhandlungswege eine einvernehmliche Lösung werde erreicht werden können, zumal die österreichische Diplomatie ihrerseits diese Tendenzen geschickt aufgriff. Schon damals glaubte man zuversichtlich, dass eine gemeinsame Zollunion eine so starke Klammer abgeben werde, dass die politischen Schwierigkeiten würden überwunden werden können. So erklärte Waitz im Verfassungsausschuss: "Geschähe einmal diese Zolleinigung, so würde damit eine solche Macht der Interessen entstehen, dass keine Macht Europas widerstehen könnte" (9).

Alle diese Lösungen krankten bekanntlich daran, dass sie das Beharrungsvermögen der beiden deutschen Großmächte, obschon diese in der Anfangsphase der Revolution politisch daniederlagen, weit unterschätzten. Darüber hinaus aber verkannten die Achtundvierziger die Brisanz der Nationalitätenfrage in geradezu massiver Weise: Ungeachtet der im liberalen Lager verbreiteten Polenbegeisterung war man selbst im Lager der demokratischen Linken geneigt, die slawischen Völker mehr oder minder unter die Kuratel der deutschen Mehrheit zu stellen, in krasser Fehleinschätzung ihres zahlenmäßigen ebenso wie ihres politischen und kulturellen Gewichts. Über alle diese weitgesteckten Planungen für ein deutschbestimmtes Mitteleuropa ging die Entwicklung in der Folge mit Riesenschritten hinweg; mit der Entscheidung für eine kleindeutsche Lösung und ein preußisches Kaisertum waren die Voraussetzungen für ein großdeutsches Mitteleuropa, wenn sie denn jemals bestanden haben sollten, grundsätzlich dahin. 

Abbildung 5:

In der liberalen Nationalbewegung spielte die "deutsche Frage" eine wichtige Rolle. In der Frage, wo die Grenzen des zukünftigen deutschen Reiches verlaufen sollten, entschied sich im Herbst 1848 die Mehrheit der Nationalversammlung in der Paulskirche für die "großdeutsche Lösung" (links) (mit den deutschsprachigen Gebieten Österreichs einschließlich ganz Böhmens und Mährens, aber ohne die außerdeutschen Provinzen des Kaisertums Österreichs: Galizien, Kroatien, Norditalien, Ungarn). Zur Diskussion standen auch die sog. "kleindeutsche Lösung" (Mitte) und die sog. "großösterreichische Lösung", die "gleichsam eine Brücke zwischen den Kerngebieten Deutschlands und den südosteuropäischen Völkern" spielen sollte.

Internet-Quelle

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Anmerkungen

4. Vgl. Roman Schnur, Mitteleuropa in preußischer Sicht: Constantin Frantz, in: Der Staat 25 (l986) 545 ff.

5. Nach Schnur, ebenda, S. 546.

6. Adam Wandruszka, Großdeutsche und Kleindeutsche Ideologie 1840-1871, in: Robert A. Kann/Friedrich Prinz (Hrsg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, München 1980, S. 114.

7. Wilhelm Mommsen, Größe und Versagen des deutschen Bürgertums. Ein Beitrag zur Geschichte der Jahre 1848-1849, Stuttgart 1949, S. 199.

8. Ebenda, S. 203. Mommsen berichtet von einer Äußerung eines österreichischen Abgeordneten aus dem Dezember 1848: "Ich träume von zwei Bundesstaaten, einem deutschen und einem österreichischen, zwischen welchen die österreichisch-deutschen Provinzen die Verbindungsbrücke zu bilden und von Frankfurt für dieselben einige Ausnahmekonzessionen zuzugestehen wären."

9. Ebenda, S. 203.