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'Fortbestand großdeutscher Denkweisen'
 
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Fortbestand großdeutscher Denkweisen

Ebenso waren die älteren großdeutschen Denkweisen keineswegs ganz ausgestorben. Ein gutes Beispiel dafür findet sich bei Karl Lamprecht [1] , dessen "Deutsche Geschichte" ungeachtet der einhelligen Ablehnung der Zunft zu den meistgelesenen Werken jener Epoche gehört. Er wies die verbreitete Meinung zurück, dass das Deutsche Reich Bismarcks die volle Erfüllung der nationalen Wünsche der Deutschen gebracht habe; vielmehr sei der Bismarck'sche Nationalstaat durchaus als unvollendet anzusehen. "Für Deutschland fundamentale Forderungen eines subjektivistischen Seelenlebens" der Deutschen seien "noch keineswegs erfüllt"; für "das weite Gebiet der öffentlich-rechtlichen, kirchlichen und staatlichen Betätigung" als Ganzes könne man "von etwas Unvollendetem reden" (15).

Abbildung 9:

Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz hat eine umfangreiche Kartendokumentation zur territorialen Veränderung "Mitteleuropas" und anderer Teilgebiete Europas online gestellt. Zum Teil sind die Kartenabfolgen animiert, so dass die Grenzveränderungen im Verlauf der Jahrhunderte gut nachvollziehbar sind.

Internet-Quelle [2] - Internet-Quelle (animierte Karte) [3]


Hier wie auch in anderen Fällen, so notorisch bei Paul de Lagarde, richteten sich die eigenen Erwartungen nicht allein auf die Erfüllung des alten großdeutschen Traums der Verwirklichung eines einheitlichen Nationalstaats für alle Menschen deutscher Zunge, sondern sogleich in Richtung auf ein deutsch geprägtes Mitteleuropa. Lamprecht wagte sich zu bemerkenswerten kontrafaktischen Spekulationen vor für den Fall, dass die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 zu einem erneuten deutschen militärischen Triumph über Frankreich geführt hätte: "Was würde eingetreten sein, hätten die Deutschen des Reiches, wie Moltke glaubte gewährleisten zu können, Frankreich damals noch einmal und mit ihm vielleicht Russland besiegt? Frankreich und gegebenenfalls Russland würden an Territorium wenig verloren haben. Aber eine mitteleuropäische Staatenkombination nach Art des alten Deutschen Reiches, in modernen Formen selbstverständlich, würde sich gebildet haben: stark genug zur vollen Geltendmachung der Nationalität, friedfertig genug, um niemand anzugreifen, einig genug, um, wenn angegriffen, sich mit Nachdruck zu schützen. Und der stille Daseinsdruck dieser Kombination würde genügt haben, Österreich in ganz anderer Weise, als es nun geschieht und geschehen ist, die Pforten des Orients zu öffnen: denn jetzt dringen die Österreicher immerhin in dünnen Linien vor; im anderen Falle aber würden hinter ihnen unbedingt und stetig, in karreeartiger Tiefe, die Massen der Deutschen aus dem heutigen Reiche gestanden haben. Über die Wucht der Vorgänge, die dann möglich gewesen wäre, möge man sich keinem Zweifel hingeben. Nicht Preußen, Österreich vielmehr ist die große kolonisatorische Macht unserer Geschichte ...; noch harren die slawischen Gebiete des Balkans des schützenden Schattens seiner Adler." (16)

Es ist dies eine bemerkenswerte Äußerung, die zeigt, dass großdeutsch-imperiale Ideen mitteleuropäischen Zuschnitts keineswegs nur auf das äußerste rechte Lager im Spektrum des deutschen politischen Denkens des Kaiserreichs beschränkt waren, obschon sie dort am schärfsten hervortraten und zugleich eine besonders aggressive Sprache an den Tag legten. Zwar stellte die kleindeutsche Sicht der Dinge unumstritten die herrschende Meinung dar; ein Blick auf die Auffassungen der übergroßen Mehrheit der deutschen Historiker in dieser Frage würde dies zur Genüge erweisen. Aber man darf füglich davon ausgehen, dass unterschwellig weithin die Bereitschaft bestand und sich in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch verstärkte, gegebenenfalls über die bestehende Lösung der deutschen Frage hinauszugehen, die, wie Max Weber [4]  späterhin urteilen zu müssen glaubte, von Bismarcks Standpunkt aus eine Veranstaltung gewesen sei, "welche die Zugehörigkeit von 10 Millionen Deutschen zum Reich opferte, um 30 Millionen Nichtdeutsche politisch zu neutralisieren" (17). Max Lenz beispielsweise stellte der Zukunft der Donaumonarchie keine günstige Prognose und erwartete, dass die "Anziehungskraft, welche die kompakte Masse unseres von nationalem Hochbewusstsein geschwellten Reiches auf die Millionen unserer bedrängten Brüder in dem Nachbarstaat ausübt, wirken werde wie der Magnetberg der Sage, der alle Nägel aus dem nahen Schiff herauszog" (18).

Abbildung 10:

Die Donaumonarchie im Jahre 1914

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [5]

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Anmerkungen

15. Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 11/2, Berlin 1908, S. 705.

16. Ebenda, S. 703 f.
 
 17. Max Weber, Bd. 1/16: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918-1920, hrsg. von W. J. Mommsen, Tübingen 1988, S. 99.
 
 18. Mommsen, Österreich-Ungarn, S. 217.