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'Der Erste Weltkrieg und die Mitteleuropaidee'
 
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Der Erste Weltkrieg und die Mitteleuropaidee

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Erfahrung der Blockade änderten alles dies, wie schon Henry Cord Meyer gezeigt hat (21). Es kam nun auf ganzer Linie zu einer Rückwendung der deutschen Expansionsziele auf den europäischen Kontinent, und damit gewannen auch die Mitteleuropapläne eine neue, aktuellere Qualität. Ihrer Substanz nach nahmen sie während des Ersten Weltkrieges freilich durchweg den Charakter von Planungen an, mit deren Hilfe die großen Probleme der Kriegführung der Mittelmächte gelöst werden sollten. Erst in zweiter Linie sind sie als Plädoyers für eine grundlegende Neuordnung Europas und für ein engeres Zusammenwirken der Völker Mitteleuropas auch über das Kriegsende hinaus zu werten.

Abbildung 13:

Mitteleuropa am Vorabend des Ersten Weltkrieges

 

 

 

Internet-Quelle [1]

Im Ersten Weltkrieg begegnen uns die Mitteleuropapläne in drei miteinander teilweise konkurrierenden Varianten:

  • als Kern eines gemäßigten, vorwiegend mit informellen Methoden operierenden Expansionsprogramms, welches der Beraterkreis Bethmann Hollwegs dem radikalen Annexionismus der Rechten und der ihnen nahe stehenden industriellen Kreise als elastische Alternative entgegenzustellen suchte, 
  • als strategische Aushilfe der deutschen Kriegführung in einem sich zu einem gigantischen Abnutzungskrieg verwandelnden Völkerringen sowie 
  • als Mittel, um Österreich-Ungarn auf Dauer an das Deutsche Reich zu binden und dieses in ein vornehmlich auf Ost- und Südosteuropa gerichtetes riesenhaftes Expansionsprogramm einzubeziehen, ohne seinen staatlichen Bestand als solchen formell anzutasten. 

Es ist bekannt, dass im so genannten Septemberprogramm [2] , den "Aufzeichnungen über die Richtlinien unserer Politik bei Friedensschluss" vom 9. September 1914, welches noch vor den entscheidenden Rückschlägen der deutschen Armeen an der Marne, also zu einem Zeitpunkt entstanden war, an dem die politische Leitung davon ausging, dass ein baldiger Friedens- oder doch Vorfriedensschluss mit Frankreich in erreichbare Nähe gerückt war, die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes unter deutscher Führung ins Auge gefasst war. Der entscheidende Passus lautet: "Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und evtl. [sic!] Italien, Schweden, Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren." (22)

Abbildung 14:

Die Wirtschaft des Deutschen Reiches erlebte nach dessen Gründung 1981 einen enormen Aufschwung. Damit verbindet sich eine starke Orientierung der deutschen Expansionsziele auf den europäischen Kontinent, womit am Vorabend des Ersten Weltkriegs auch die die Mitteleuropapläne eine neue, aktuellere Qualität gewannen.

Internet-Quelle [3]

Dementsprechend war vorgesehen, Frankreich gleichsam im Vorfeld solcher Planungen einen Handelsvertrag zu oktroyieren, der dieses in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringen und es unter Ausschaltung des englischen Handels zu einem deutschen Exportland machen würde. Die politische Zielsetzung dieses Programms, über dessen politischen Status die Forschung bis heute streitet, war es, durch die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsblocks unter deutscher Führung weit reichende territoriale Annexionen, wie sie schon damals von Teilen der deutschen Öffentlichkeit mit Nachdruck gefordert wurden, entbehrlich zu machen und sich stattdessen im Großen und Ganzen mit indirekten Formen der Beherrschung des europäischen Kontinents zu begnügen. Eine defensive Absicht gegenüber den weit reichenden annexionistischen Tendenzen in der deutschen Öffentlichkeit - der annexionistische Denkschriftenkrieg hatte bereits eingesetzt - ist dabei nicht zu übersehen (23). Urheber dieser Planungen dürften insbesondere Kurt Riezler, der persönliche Adjutant und Berater Bethmann Hollwegs, und der Staatssekretär des Inneren, Clemens von Delbrück, gewesen sein, die mit den Mitteleuropaplänen Rathenaus und Stolberg-Wernigerodes vertraut waren und schon zuvor ähnliche Erwägungen angestellt hatten (24).

Wenn hier die südosteuropäische Dimension gegenüber der westeuropäischen zurückstand, so war dies in der aktuellen Lage begründet, die zunächst einmal Antworten auf die Frage erheischte, wie man für den Fall eines Präliminarfriedens mit Frankreich verfahren solle. Es ist aber unübersehbar, dass in der Umgebung des Kanzlers die Mitteleuropaidee in einem durchaus weit umfassenderen Sinne verfolgt wurde, nicht zuletzt auch mit dem Ziel, Österreich-Ungarn auf diesem Wege in die deutschen Kriegszielplanungen einzubeziehen und sich dessen eigene Expansionsbestrebungen für die Verwirklichung der angestrebten informellen Herrschaft des Deutschen Reiches über den europäischen Kontinent, einschließlich Polen und der kleineren südosteuropäischen Staaten, indirekt zunutze zu machen. Es mag sein, dass der jugendliche Riezler sich von seiner eigenen Begeisterung ein wenig weiter treiben ließ, als dies den Vorstellungen Bethmann Hollwegs, Delbrücks und Helfferichs entsprach, aber seine Tagebuchnotizen geben gleichwohl die Quintessenz der Erwägungen der Reichsleitung in der Frage einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihres Kernstücks, der deutsch-österreichischen Zollunion, treffend wieder:

"Gestern lange mit dem Kanzler zusammengesessen, um ihm mein neues Europa, d.h. die europäische Verbrämung unseres Machtwillens, auseinanderzusetzen. Das mitteleuropäische Reich deutscher Nation. Das bei Aktiengesellschaften übliche Schachtelsystem, das Deutsche Reich eine A[ktien]G[esellschaft] mit preußischer Aktienmajorität, jede Hinzunahme neuer Aktionäre würde diese Mehrheit, auf der, als auf der preußischen Hegemonie[,] das Reich steht, zerstören. Daher um das Deutsche Reich herum ein Staatenbund, in dem das Reich ebenso die Majorität hat wie Preußen im Reich ... Dann Oesterreich so behandeln, dass es von selbst hineinwächst. Das wird es und muss es." (25) Riezler endete in der optimistischen Note: "Mitteleuropa ist wirtschaftlich und politisch die welthistorische Aufgabe." (26)

In der Tat hat die deutsche politische Leitung in der Folgezeit die Frage einer deutsch-österreichischen Zollunion konsequent weiter verfolgt, wenn auch in erster Linie unter politischen, nicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, mit dem Ziel, einerseits Österreich-Ungarn auf diese Weise fest an die deutsche Politik zu binden und andererseits eine Basis zur Begründung eines Systems informeller Einflussnahme auf die Verhältnisse in Südosteuropa zu gewinnen.

Abbildung 15:

General Erich von Falkenhayn versuchte 1915, die Entscheidung des Ersten Weltkriegs im Westen zu erzwingen, scheitert aber vor Ypern. "Nachdem er die Aussichten, den Krieg durch eine entscheidende militärische Niederwerfung der Gegner zu einem baldigen Ende zu bringen, für nicht mehr gegeben hielt, glaubte er in der Mitteleuropaidee ein Mittel zu sehen, um den Alliierten Mächten die Hoffnung auf eine allmähliche Aushungerung der Mittelmächte mit Hilfe der Blockade zu nehmen und diese demgemäß friedensgeneigt zu stimmen" (vgl. Text).

 

Internet-Quelle [4]

Dies wurde der politischen Leitung umso mehr nahe gelegt, als im September 1915 der deutsche Generalstabschef von Falkenhayn [5] , nachdem er die Aussichten, den Krieg durch eine entscheidende militärische Niederwerfung der Gegner zu einem baldigen Ende zu bringen, für nicht mehr gegeben hielt (27), die Mitteleuropaidee als ein Mittel entdeckte, um den Alliierten Mächten die Hoffnung auf eine allmähliche Aushungerung der Mittelmächte mit Hilfe der Blockade zu nehmen und diese demgemäß friedensgeneigt zu stimmen. Nachdem sich die Alliierten, wie Falkenhayn meinte, entschlossen hätten, "ihr Heil in einem planmäßig durchgeführten Erschöpfungskrieg zu suchen", sei ein geeignetes Gegenmittel "in der Schaffung eines mitteleuropäischen Staatenbundes zu erblicken". Falkenhayn dachte dabei "zunächst an einen Zusammenschluss des Deutschen Reichs, Österreich-Ungarns. Bulgariens und der Türkei zu einem Schutz- und Trutzbündnis", wollte dieses aber auch auf wirtschaftliche und kulturelle Ziele ausgedehnt sehen (28).

Bethmann Hollweg reagierte auf diese Vorschläge zunächst äußerst reserviert; durch die Bildung eines mitteleuropäischen Staatenbundes werde "die militärische, politische und wirtschaftliche Kriegsmacht unserer Gegner" nicht unmittelbar geschädigt. Andererseits erklärte auch er es als Zukunftsprogramm der deutschen Politik, "die Balkanstaaten durch Loslösung vom russischen Einfluss und die germanischen Länder des Kontinents durch politische und wirtschaftliche Beziehungen uns näher zu verbinden". (29)

Abbildung 16:

Die Rivalitäten in Europa werden um die Jahrhundertwende in zahlreichen sog. "humoristischen Karten" gezeigt (hier ein frz. Beispiel von Madol um 1871/72). Tatsächlich sind dabei die Bedrohungen karikiert, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs in zunehmendem Maße über dem Kontinent lasten.

Internet-Quelle [6]

Ungeachtet der Reserven der Reichsleitung, welche die enormen Schwierigkeiten eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes sah, der wesentlich über die dem Deutschen Reich ohnehin schon verbündeten Mächte Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei hinausgehen würde, blieb die Mitteleuropafrage in den kommenden Monaten weiterhin auf der Agenda der deutschen Politik. Hauptgrund dafür war das Polenproblem, dessen zumindest vorläufige Lösung nach den deutschen Waffenerfolgen im Osten nunmehr akut geworden war. Hier hatten der Reichskanzler und das Auswärtige Amt die so genannte austropolnische Lösung ins Auge gefasst, d. h. die Überlassung Kongresspolens [7]  an das verbündete Österreich-Ungarn unter einem österreichischen Erzherzog; dies wäre angesichts der weit reichenden Autonomieversprechungen des Zaren und der Rolle Josef Pilsudskis an der Spitze einer antirussischen polnischen Freischärlerarmee in Galizien eine durchaus realistische Lösung gewesen. Doch regten sich sogleich heftige Bedenken gegen eine Überlassung Kongresspolens an Österreich-Ungarn, vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass dann die Sicherheit der deutschen Ostgrenzen nicht gewährleistet sei, zumal Österreich-Ungarn bei einem künftigen Kriege auch einmal im gegnerischen Lager stehen könnte.

Dies veranlasste die deutsche Politik, das Projekt einer mitteleuropäischen Zollunion nunmehr ernstlich ins Auge zu fassen, obschon die wirtschaftlichen Argumente einstweilen überwiegend gegen eine Zollunion sprachen (30). Denn durch eine Zoll- und Wirtschaftsunion würde Österreich-Ungarn auf lange Zeit hinaus an das Deutsche Reich gebunden sein. Die politische Leitung hoffte, auf diese Weise die Bedenken gegen eine austropolnische Lösung auszuräumen, dies nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, dass diese günstige Voraussetzungen für die Rekrutierung eines polnischen Freiwilligenheers gegen das zaristische Russland geschaffen haben würde. Die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn über ein Zollbündnis als Vorstufe einer künftigen Zollunion, die die deutsche Wirtschaft einstweilen für wenig erstrebenswert hielt, weil Deutschland dabei der gebende, Österreich der nehmende Teil sein werde (31), erreichten im November 1915 ihren Höhepunkt. Sie liefen sich dann aber, angesichts des fortbestehenden Widerstands der Militärs, insbesondere des Oberbefehlshabers Ost unter Hindenburg und Ludendorff, gegen die austropolnische Lösung, fest und verloren schließlich ihre Dringlichkeit. Inzwischen waren freilich die Bestrebungen, im Zeichen der Mitteleuropaidee eine engere Verbindung der beiden Kaiserreiche herbeizuführen, in die deutsche Öffentlichkeit gedrungen.

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Anmerkungen

21. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action, S. 17 ff.

22. Das Programm ist abgedruckt bei Wolfgang J. Mommsen, Imperialismus. Seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen Grundlagen, Hamburg 1977, S. 233 f.

23. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die Regierung Bethmann Hollweg und die öffentliche Meinung 1914-1917, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), S. 117-159, hier S. 125 f. Vgl. Wilhelm Deist, Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918, Teil l (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 2. Reihe, Bd. I/l, Düsseldorf 1970).

24. Das Riezler-Tagebuch verzeichnet unter dem 19. 8. 1914: "Abends langes Gespräch über Polen und die Möglichkeit einer loseren Angliederung von anderen Staaten an das Reich - mitteleuropäisches System von Differentialzöllen. Groß-Deutschland mit Belgien, Holland, Polen als engen, Österreich als weiten Schutzstaaten." Kurz Riezler, Tagebücher, Aufsätze und Dokumente, eingel. und hg. v. Karl-Dietrich Erdmann (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1972) S. 198, Nr. 550.

25. Ebenda, S. 268, Nr. 604.

26. Ebenda, S. 269, Nr. 604.

27. Vgl. die Lageeinschätzung Falkenhayns vom 8. 9. 1915, bei Andre Scherer, Jacques Grunewald, L'Allemagne et les problemes de la paix pendant la premiere guerre mondiale l, Paris 1962/66, S. 172 f.

28. Brief Treutiers an Auswärtiges Amt vom 30. 8. 1915, ebenda S. 163 f.

29. Brief Bethmann Hollwegs an Falkenhayn vom 5. 9. 1915, ebenda S. 168f.

30. Vgl. Brief Bethmann Hollwegs an Falkenhayn vom 16. 9. 1915, ebenda S. 180f.

31. Nach Bethmann Hollwegs Formulierung, ebenda.