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'Die Einbeziehung Deutschlands in die neuen westeuropäischen Strukturen'
 
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Die Einbeziehung Deutschlands in die neuen westeuropäischen Strukturen

Die IV. Republik hat den Europarat [1] , die EGKS [2] (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), die WEU [3] (Westeuropäische Union), Euratom [4] und die EWG [5] ermöglicht. Sie sah darin Instrumente, Deutschland unter Kontrolle zu halten und Frankreich den ersten Platz in Kontinentaleuropa zu sichern. Beide seinerzeit einsichtigen Motive haben die Politik jedoch nicht daran gehindert, die Idee der Kontrolle zu einer Idee französisch-deutscher Freundschaft umzuschmieden. Die Einsicht, dass Frankreich kaum auf Dauer allein eine in Europa dominierend-dirigierende Rolle spielen könnte, machte sich schon vor der Wiederkehr de Gaulles an die Macht bemerkbar. Konrad Adenauer [6] (1876-1967) verstand es, den außenpolitischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands mit den neuen europäischen Strukturen zu verknüpfen und zugleich den von Frankreich gewünschten Weg einer besonderen französisch-deutschen Beziehung einzuschlagen. Dies mündete in die Vereinbarung eines deutsch-französischen Freundschaftsvertrages zwischen Adenauer und de Gaulle [7] 1962, dem vom Bundestag bei der Ratifizierung allerdings die antiamerikanische Spitze genommen wurde.

Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, die Väter des Elysée-Vertrages 1963

Internetquelle: charles-de-gaulle.org/spip/article.php3?id_article=6 (11.02.2003)

Abgesehen von den Widerstandsplänen der Résistance, die nicht zum Zuge kamen, hatten Mitglieder und Berater der provisorischen französischen Regierung in Algier seit 1943 vermehrt europapolitische Ideen produziert. Geostrategische und wirtschaftliche Überlegungen spielten dabei eine überragende Rolle. Der zentrale Punkt aller Überlegungen war jedoch die Behandlung der deutschen Frage. Jean Monnet [8] (1888 bis 1979) entwarf das Szenario einer europäischen Föderation, deren Ziel die Integration der europäischen Wirtschaft sein sollte. Monnet bezog Deutschland in seine Pläne mit ein. De Gaulle favorisierte letztendlich eine Zollunion mit den Benelux-Staaten [9] , als Konföderation ausbaufähig, zu der Großbritannien hätte hinzustoßen können. Er verfolgte anfangs eine Teilung Deutschlands, für die mehrere Modelle im Raum standen: Bildung eines schwerindustriellen "Lotharingiens [10] ", bestehend aus Lothringen, Rheinland und Ruhrgebiet; Abtretung der deutschen Kohle-Stahl-Regionen an Frankreich; französisch-süddeutsche Union; Aufteilung Deutschlands in mehrere Gebiete mit unabhängigem oder Autonomiestatus; Internationalisierung des Ruhrgebiets.

Bis 1947 wurde französischerseits keine Europapolitik um Europas willen verfolgt, sondern um der Interessen Frankreichs willen. Diese Politik scheiterte an Großbritannien und den USA, der französischen Außenpolitik wurde ihre relative Ohnmacht und das Faktum vor Augen geführt, dass es ein Westeuropa (um das ganze Europa ging es spätestens seit 1944 ohnehin nicht mehr) mit der Hauptfunktion, ein politisches und wirtschaftliches Bollwerk gegen Deutschland zugunsten Frankreichs zu bilden, nicht geben würde. Die Amerikaner benutzten ein durchschlagendes "Argument", den Marshall-Plan (Juni 1947) oder exakter das European Recovery Program. Wie durchschlagend bezüglich eines neuen Ausmaßes europäischer Kooperation das Programm war, zeigte sich an der Reaktion der Sowjetunion, die nach einer Reihe von Verhandlungen eine Beteiligung an dem Programm ablehnte. Sie befürchtete Einbußen an nationaler Souveränität und eine bedeutende Schmälerung ihres Einflusses auf Osteuropa.

Für die Sozialisten unter Léon Blum war die sowjetische Ablehnung ein besonders schwerer Schlag. Bis dahin hatte Blum Problemlösungen der internationalen Politik vor allem in der Perspektive der UNO diskutiert, Europa war ihm kein letzter Maßstab. Nach der Absage der Sowjetunion und - unter dem Druck der SU - der osteuropäischen Staaten dachten Blum und die SFIO [11] um: Westeuropa wurde nun eine reale internationale politische Größe, die es zu organisieren galt, wenn auch letztlich im Hinblick auf eine globale internationale Organisation. Auf der Konferenz von 16 europäischen Ländern Mitte Juli 1947 in Paris wurde die Einrichtung eines "Committee of European Economic Cooperation" beschlossen, am 16. April 1948 die Konvention über die "Organization of European Economic Cooperation [12] " (OEEC) unterzeichnet. Der Marshall-Plan bedeutete für zahlreiche Europabewegungen, insbesondere auch in Frankreich, einen gewaltigen Motivationsschub, aber die Wege der Regierungen und der Bewegungen blieben durch breite Gräben getrennt.

Die OEEC stellte eine Chance dar, die schleppend, aber immerhin, ergriffen wurde. Da die Amerikaner auf einer Einbeziehung Deutschlands bestanden und sich Großbritannien hartnäckig allen französischen Avancen für eine französisch-britische Führung Europas widersetzten, veränderten sich die französischen Positionen schrittweise. Schon bei den Vorbereitungen zur Gründung des Europarats, die maßgeblich von Frankreich ausgingen, war die künftige Integration Deutschlands in die neuen Strukturen akzeptiert. In der Tat war die Lösung der Deutschlandfrage die Kernfrage jeder Art von europäischer Integration. Der Schuman-Plan vom 9. Mai 1950 (korrekterweise müsste es "Alphand-Monnet-Schuman-Plan" heißen) stellte einen ersten realistischen Kompromiss zwischen den früheren Zielen der "antideutschen" Europapolitik Frankreichs und einer echten europäischen Integrationspolitik dar. Folge dieses Plans war die Gründung der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (EGKS), deren erster Präsident der entschiedenste französische Europäer, Jean Monnet, wurde.

Bossuat (1996) schließt seine Analyse der Europapolitik der IV. Republik mit einem vorsichtigen Ausblick auf die 1990er: Sicherheit sei nach wie vor ein prioritäres Ziel französischer Politik, aber nicht mehr im Hinblick auf Deutschland, sondern auf die Sicherheit Europas. Das Ideal eines Vereinigten Europa, zu dem sich sehr viele Politiker in den 40er und 50er Jahren bekannten, wird heute mit mehr Leben erfüllt. "Ideal" bedeutet(e) vor allem, auf Teile der früheren nationalen Souveränität zu verzichten. Frankreichs konstruktive Rolle bei der Währungsunion zeigt überdeutlich im Vergleich zu den Diskussionen um eine mögliche europäische Währungsunion in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende, wie weit sich französische Politik und öffentliche Meinung auf die Anerkennung supranationaler Institutionen zubewegt haben. Jean Monnet wurde wegen seiner Ideale seinerzeit von interessierten Kreisen beschuldigt, im Dienst der Amerikaner und, noch schlimmer, der deutschen Interessen zu stehen. Robert Schuman musste sich als "boche" (Schimpfwort für "Deutscher") traktieren lassen. Bleibt als drittes Motiv der Rang Frankreichs, damals wie heute. Hier mag man sich noch am ehesten treu geblieben sein - seit Ludwig XIV. -, aber dieses Motiv bleibt gegenüber der Europäisierung der beiden anderen Motive nach Bossuat, nämlich Sicherheit und Ideal, faktisch blass, selbst wenn es sich für symbolische Zeichensetzungen immer wieder eignet. (Text aus: W. Schmale: Geschichte Frankreichs (UTB), Stuttgart 2000, S. 381-385; mit freundlicher Genehmigung des Ulmer-Verlages Stuttgart).

Die fortschreitende Integration Europas hat das Gewicht der deutsch-französischen Beziehungen etwas relativiert, aber nach wie vor macht es einen großen Unterschied, ob die beiden Länder in der EU an einem Strang ziehen oder verschiedene Zielsetzungen verfolgen. Die Auseinandersetzungen um die amerikanische Politik gegen den Irak, die Anfang 2003 in den Irakkrieg mündete, hat beide Länder gemeinsam auf der "Oppositionsbank" gesehen, wie sie für eine Stärkung der EU und deren größerer Unabhängigkeit von den USA, wenn auch nicht gegen die USA, argumentierten.